unentbehrlich

Hätten sich die Angehörigen der Opfer nicht organisiert, gäbe es viel weniger Gedenken, weniger Fordern, weniger Raum für ihre Wunden. Das wurde mir noch einmal bewusst, als ich den ZDF-Film „Hanau“ sah.

Als Lektor_in und Buchsetzer_in habe ich in den letzten Monaten das Buch „Unentbehrlich – Solidarität mit Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt“ als Text und Botschaft in mir bewegt. In diesem Sammelband geht es um die Arbeit der Opferberatungsstellen und um die Kämpfe von Aktivist_innen, Angehörigen und Betroffenen. Es geht um rechtsmotivierte, rassistische, antisemitisch begründete Gewalttaten und wie breit sie nicht als solche anerkannt werden.
Als Opfer von Gewalt in der Familie habe ich diese Texte gelesen und mich damit konfrontiert, dass auch ich einen Bias vor ihren Wunden habe. „Wir Betroffenen (sexualisierter) Gewalt im sozialen Nahraum“ begreifen unsere Gewalterfahrungen oft als etwas, das nicht sein darf, weil sie von so nahen Menschen kam – wer könnte näher stehen als der eigene Vater, die eigene Mutter, ein Bruder oder eine Schwester? Aber auch, weil sie zu Hause passierte oder in einem anderen als privat markierten Raum.
Passiert etwas öffentlich – „am helllichten Tag“ – dann denken wir, dass das alle mitgekriegt haben. Dass dann niemand mehr sagen muss: „Hey, ich wurde verletzt, ich brauche Hilfe“, weil das doch völlig klar ist. Wenn wir rausgehen, dann sind wir wie alle anderen, wir sind doch alle gleich, alles ist für alle sichtbar – nichts ist im Privaten verborgen.

Für Menschen, die nicht weiß sind, stimmt das nicht. Und für viele behinderte Menschen übrigens auch nicht.
Rassismus ist in unsere ableistische Gesellschaft hineingewoben. Wer rassistisch eingeordnet wurde, kann nichts, absolut nichts tun oder lassen, um sicher von rassistischer Diskriminierung zu sein oder den Folgen rassistisch geprägten Handelns zu entgehen. Es ist ein Leben, in dem immer mitgedacht wird, dass man als fremd wahrgenommen wird. Als fern und anders. Man kann nicht ganz grundlegend sorglos um die eigene Existenz sein, es kann nur Freiräume geben und selbst diese werden selten einfach gewährt und akzeptiert – geschweige denn geschützt, denn geschützt wird immer zuerst, was am nächsten ist.

Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi, Fatih Saraçoğlu, wurden am 19. Februar in der Öffentlichkeit getötet. Von jemandem, der angekündigt hat, dass er töten würde. Sie waren nicht von dem geschützt, was wir weißen Menschen in Deutschland als Schutz durch Öffentlichkeit empfinden: Eine mit uns solidarische Mehrheit, die uns als Menschen wie sich selbst einordnet und im Alltag wie im Notfall für uns da ist.
Ihre Angehörigen wurden von der Öffentlichkeit und den Organen, die sie vertritt, im Stich gelassen. Sie wurden nicht gut versorgt als es passierte, sie werden bis heute nicht genug unterstützt zu verarbeiten und ein Leben zu leben, in dem ihnen passiert ist, was sie mehr oder weniger bewusst immer fürchten mussten, weil sie keinen Anlass haben zu glauben, sie wären grundsätzlich sicher.

Dieses Gefühl der Unsicherheit ist, was in mir viel bewegt und worüber ich selbst eine Verbindung zu ihnen herstelle. Es ist grauenhaft, wenn man weiß, dass man außerhalb der safe_r spaces, die man sich erkämpft hat, nicht sicher ist und nicht auf den Schutz der Öffentlichkeit verlassen kann. Wenn die (weiße) Polizei, die man um Hilfe anruft, Rassismus und rechten Hass nicht an.erkennen kann, selbst, wenn er offensichtlich ist. Wenn die (weiße) Justiz rechte, antisemitisch begründete Gewalt zu einer persönlich motivierten Tat macht und damit den Betroffenen, Angehörigen, Überlebenden jede Deutungsmacht über das Geschehen in der Öffentlichkeit nimmt.
Wenn einfach jede Instanz, die das gemeinsame Miteinander unter Menschen im Zweifel immer gegen eine_n entscheidet – dann ist das ein Leben, das von Anpassung an Gewalt geprägt ist und damit alles andere als frei und selbstbestimmt.

Frei und selbstbestimmt zu leben, ist ein Grundrecht.
Und wir weißen Menschen, wir weiße Öffentlichkeit, beschneiden es vielen Menschen täglich. Sei es durch konkrete Taten, durch Worte oder durch die Hinnahme von Strukturen, die es anderen ermöglichen Taten und Worte, Medieninhalte und Gesetze zu machen, die das an ihrer statt tun.

Heute finden einige Gedenkveranstaltungen statt. Es gibt schon die ganze Woche über viele Texte zum Thema. Angehörige und Aktivist_innen bieten damit eine Verbindung an. Sie einzugehen ist unentbehrlich.

Miteinander säen

Erinnerungskonfetti im Hintergrund meiner Alltagsgedanken, Päckchen und Warensendungen im Flur unseres Hauses, ein rechtes Attentat in Hanau. In dieser Woche kam ich mir vor wie ein losgelöstes Blatt auf wogender See. Irgendwie dabei und doch nur bewegt – nicht in Bewegung.

In meiner Twittertimeline gibt es seit Tagen kein anderes Thema, als die Notwendigkeit, etwas gegen rechten Terror zu tun, Beispiele versagenden Journalismus und stupider Meinungsquirle. Ab und an ein süßes Tier, dazwischen Worte von Menschen, die die nächsten Opfer sein könnten und damit 24/7 umgehen.
Wir haben überlegt, zu einer Demo zu gehen. Aber stemm das mal. Eine Stunde zur nächsten Stadt, in der eine Demo ist. Du weißt nicht, wie die Stimmung ist, kommen viele Leute, was wenn die Kraft plötzlich vorbei ist, dann ist es immer noch eine Stunde wieder nach Hause. Wir gingen nicht.
Später lag ich mit Heimweh im Bett, fragte mich, wie die Stimmung im Bullergheddo wohl ist. Würden wir da noch wohnen, wären wir auf jeden Fall bei der Demo gewesen. 15 Minuten mit dem Rad, Ortskenntnis, lauter safe spaces für den Fall, dass plötzlich nichts mehr geht. Und jetzt ist es vorbei, das privilegierte Demonstrieren gegen Dinge, die andere treffen und mich betroffen machen. Draußen fahren Laster vorbei, die kleine Sperlingsgang zwitschert in der Hecke, irgendwo tönt eine Heckenschere.

Noch später merkte ich, dass es vielleicht auch nur ein Vermeidungshandeln ist, zu einer Demo zu stürmen. Denn nun saß ich hier mit den Päckchen im Flur und dem Regen vor der Tür, meinen To do-Listen und den permanent einrieselnden Kindheitserinnerungen und musste wahrhaft fühlen, was das rechte Morden und seine Folgen mit mir machen. Mir. Einer weißen Person, die keinerlei enge Kontakte zu Leuten hat, die täglich mit rassistischer Gewalt in irgendeiner Form zu tun haben. Einer weißen Person, die ihr Privileg so ungreifbar eingewebt erfährt, dass es in den meisten Lebensbereichen unteilbar erscheint.
Ohnmächtig fühlt sich das an. Und lächerlich. Erzähl mal Leuten von deiner Ohnmacht über die Gewalt, die ihnen Lebensgefahr bedeutet, einfach, weil es Leute gibt, die entscheiden, es sei problematisch, dass sie gibt. Es hilft ihnen nicht, wenn sie nicht auf uns zählen können. Wenn wir einander eben nicht ‘wir’ sind.

In den Päckchen und Paketen sind Anzuchterde und ein Frühbeet.
Die ganze Woche trage ich die Formulierung “Hass säen” mit mir herum. Erinnere plötzlich einen Keramiktopf mit Gesicht, dem Kresse als Haare wuchsen. Wie dieser Topf vielleicht in D., vielleicht auch in L. auf der Fensterbank stand und der Mutter gehörte, die damals vielleicht mittellange dunkle oder kurze rote Haare hatte.
Kann man Liebe säen? Welchen Boden, welche Grundlage braucht Miteinander?
Die Kresse hatten wir Kinder mit der Mutter zusammen in dem Topf gesät. Es tat nicht weh, machte keinen Krampf im Bauch. War das Liebe? Sicher jedenfalls Miteinander. Immerhin, für einen Moment.

Zu Demos zu gehen, kann gerade nicht mehr mein Beitrag sein. Da ist aber die Verlagsarbeit, in der wir auch die Stimmen von rassistisch bedrohten Menschen weithin hörbar machen. Da ist achtsames Zuhören, solidarisches Handeln in Trauer- und Traumaarbeit. Lernen, Zuhören, Platz machen. Selbst der safest mögliche space werden. Anderen Weißen sagen, dass es Attentäter gibt, die Tobias heißen; dass Rassismus tötet; dass auch sie rassistisch denken und handeln und das ein Problem ist.
Ist das genug? Sicher nicht.
Es braucht mehr, um es gänzlich zu beenden. Es braucht aber genau das, um einen Anfang zu machen. Vielleicht.

Hoffentlich.