es ist falsch, “unvorstellbare Gewalt” zu sagen

Und wieder ist es “unvorstellbar”. Wieder sorgt ein Fall organisierter sexualisierter Ausbeutung von Kindern für Schlagzeilen und wieder wird, ohne jedes Bewusstsein dafür, das Privileg der “Ungeschlagenen” präsentiert.
Ja, Unvorstellbarkeit von Gewalt ist ein Privileg.
Es ist ein Privileg, sich Gewalt nicht vorstellen zu können und nie aufgefordert zu sein, es zu müssen. Es ist ein Privileg so selbstverständlich zu vermeiden und damit alle Opfer und zu Opfern gemachten zu dissoziieren.

Es ist falsch, von “unvorstellbarer Gewalt” zu sprechen, wenn es um Gewalt_taten geht, die mit Gesetzestexten einzuordnen sind. „Unvorstellbare Gewalt“ kann nicht geahndet werden, denn sie ist nicht erkennbar. Jede Vorstellung (von Gewalt) beruht auf Erfahrungen, Beobachtungen, Lerninhalten. Man kann sich nur vorstellen, was man kennt. Selbst das fantastischste Wesen, das man sich ausdenken kann, wird immer aus Elementen des eigenen Wissensschatzes und der inneren Bereitschaft zu neuen Verbindungen entstehen. Was unvorstellbar ist, das ist noch nie geschehen. Wurde noch nie gesehen. Wurde noch nie erfahren.
Gewalt aber haben wir alle schon gesehen. Gewalt geschieht jeden Tag und wir alle er_leben sie in unterschiedlichen Aspekten und Auswirkungen. Einzig unser Bewusstsein und unsere Offenheit zur Wahr_nehmung dafür ist unterschiedlich.

Wer glaubt, es gäbe Menschen, für die manche Gewaltform durchaus “unvorstellbar” ist, spürt das Ziel der Vermeidung und trägt dazu bei, das Privileg der Ungeschlagenen zu erhalten.
Denn wozu dient die Formulierung “unvorstellbare Gewalt”? Vielleicht denken wir erst einmal: “Oh, da gehts um super krasse Gewalt – etwas, das man nicht alle Tage sieht.” – verarbeitet wird daneben aber auch: “Aha, unvorstellbar krass, deshalb ist es vermutlich ganz besonders schwierig, da jetzt irgendwas gegen zu machen – vielleicht sogar viel zu viel. Und, naja, wenn es sogar für die Polizei unvorstellbare Gewalt ist, die jeden Tag richtig viel mit Gewalt zu tun hat, – und es für die vielleicht viel zu viel ist – ja dann ist das ja erst recht nichts für mich. Da kann ich ja nun mal wirklich echt gar nichts machen. Und wenn es für die Profis unvorstellbar ist, dann ist es das für mich vermutlich erst recht.” Und 2 Monate später kommt der nächste bundesweit aufgedeckte Fall und man fasst sich wieder an die Brust.

Es ist bemerkenswert, wie sich – speziell bei Gewalt an Kindern und Gewalt in Kontexten, in denen gleichermaßen ein gesellschaftlicher Konsens über ein Schadenzufügungsverbot besteht, diese Sprachführung als Vehikel zur Beweisanbringung der totalen Überforderung benutzen lässt.
Man drückt damit nicht nur aus: “die Gewalt ist krass”, sondern auch: “der Umstand, dass sie (hier, in Kontexten, wo “wir” uns doch alle einige sind, dass sie dort nicht passieren und Personengruppe XY ganz besonders nicht treffen soll) passiert, ist krass”.
Damit baut man ein Bild von Machtlosigkeit auf. Man tut so, als hätte man gar keine andere Wahl gehabt, als im Nachhinein Spuren zu sichern, Beweise zu sammeln und aufgrund dessen zu verurteilen und evtl. zu bestrafen – es war ja so unvorstellbar – man konnte das ja vorher oder im Moment des Geschehens gar nicht erfassen, begreifen, verstehen und ergo gar nichts tun.
Man sagt, dass eigentlich ja immer alles okay ist, aber diesmal nicht und niemand konnte was dafür – das war ja vorher nie gesehen, nie geschehen, nie erlebt. Von niemandem. Jemals.

Außerdem verstärkt es die Annahme, dass es das nicht gibt. Diese wirklich mega krasse Gewalt, die man den Menschen einfach nicht zutraut. Man kommuniziert damit ein Level der Gewalt, das zutraubar ist – das zu fassen, und zu kontrollieren ist und ein Level, das alle Normen sprengt und ergo keinen Bezug zur Realität (und darin verortet Menschlichkeit) hat. Deshalb fällt es auch dem Ermittlungsleiter Poll so leicht über die Täter_innen so etwas zu sagen wie: „Diese Menschen, wenn man sie überhaupt so nennen kann“.

Die Formulierung “unvorstellbare Gewalt” ist eine Verteidigung all derer, die niemals mal mehr als eine_n „relatable“ Gewaltüberlebende_n angehört haben.
Weil sie nicht müssen. Weil es einfacher ist, weil es mehr heil lässt, weil es ein Privileg ist, für sich im eigenen Bild von der Welt, als jemand zu leben, die_r nie nie niemals irgendwas ~damit~ zu tun hat. Es erhält die Normen innerhalb derer Opferschaft revidierbar, aufhebbar ist und es erhält die Normen innerhalb derer man Gewalt als real (in unserer Gesellschaft) passierend akzeptiert oder auch nicht.

„Wir Gewaltüb.erlebende.n“ werden davon definiert. Wir sind froh, wenn unsere Erfahrungen vorstellbar sind, denn das bedeutet, dass unsere Erfahrungen und damit auch wir, trotz der Erfahrung noch Teil der Gesellschaft sind.
Ist sie es nicht – gelten unsere Erfahrungen als „zu krass um wahr zu sein“, als “unvorstellbar” – haben wir diesen Zugang praktisch verloren. Und das auch – und das ist das Furchtbare für uns immer wieder – wenn Menschen diese Formulierung nicht in dieser Absicht verwenden, sondern nur, um ihre Fassungslosigkeit auszudrücken. Man verhandelt in diesem Vokabular immer automatisch auch den Konsens über die gemeinsame Realität. Und die ist einfach extrem unterschiedlich zwischen “Ungeschlagenen” und “Geschlagenen”.

Ich möchte diesen Beitrag damit beenden, zu sagen, dass das nicht fair ist.
Es ist noch viele andere Dinge für mich persönlich, die_r damit umgehen muss, dass es ist, wie es ist.
Doch alles Persönliche entfernt, ist es einfach nicht fair.

Es ist nicht fair.