der Thread über die problematische Idee, unaufgearbeitete Traumata würden „Hass“ auf Coronaleugner begründen

Dieser Text ist ein Twitterthread, den wir gestern veröffentlicht haben. Für bessere Lesbar- und Verständlichkeit haben wir Fehler korrigiert, kleine Ergänzungen eingefügt und diesen Fließtext daraus gemacht.

Wir haben gestern einen Post auf Insta gelesen, der uns immer noch beschäftigt, weil er nahe legt, dass Coronaleugner_innen und „Impfkritikern“ wegen unaufgearbeiteter transgenerationaler Traumatisierung kritisch begegnet wird („sie mit Hass überschüttet werden“).

Für uns ist völlig klar: Niemand, die_r traumatisiert ist, re_agiert aggressiv/bösartig/hasserfüllt „weil wegen Trauma“, sondern weil sie_r es kann. Es ist immer eine Entscheidung. Ob bewusst oder unbewusst und egal wovon (fehl)geleitet. Es ist immer eine getroffene Wahl.

Es ist eine schädliche Annahme, als traumatisierte Person (ob darunter leidend o. nicht, ist dabei sekundär) sei man eine Marionette von Fehlinterpretation, PTBS-Symptomatik oder den eigenen (traumareaktiven) Affekten, denn auch als traumatisierte Person lebt man nicht im Vakuum.
Das ist absolutes Trauma 101:
Das Trauma, die Wunde, liegt bei dir – die Wirkung, die Folgen, „die Störung“ entsteht durch die Interaktion mit der Umwelt, die nicht kongruent mit deinem Empfinden (deiner Traumawahrheit) ist und dein Re_Agieren dysfunktional in ebendieser Interaktion (aus)wirken lässt.

Die in dem Instapost formulierte These könnte also sein: Aha, da reagieren Leute auf „Impfkritiker“ als Bedrohung, die sie bekämpfen müssen, weil sie sie gar nicht richtig verstehen/wahrnehmen/durch „die Traumabrille verzerrt“ wahrnehmen.
Das ist in zwei Richtungen problematisch.
1. Die Annahme die Menschen würden aufgrund ihrer Haltung/Werte als individuell verortete Bedrohung (also die Personen als Ort der Bedrohung) wahrgenommen werden
2. Der Schluss, dies könne (nur) traumabedingt so überhaupt entstehen.

Es deckt sich einfach nicht mit unserer Erfahrung, dass „Impfkritiker“ oder auch „Coronaleugner“ als bedrohende Menschen wahrgenommen werden – wohl aber ihr Verhalten und dessen Auswirkungen. Es ist also nichts Persönliches, wohl aber etwas, das mit den Personen zu tun hat. Diese differenzierte Perspektive weder annehmen noch an.erkennen zu können, kann viele Gründe haben und nur einer davon ist eine „Traumabrille“. Viel öfter ist es schlicht das Bild von der Welt und den Menschen darin, das man einfach aufgrund der allgemeinen Lebensumstände hat.
Zum Beispiel, weil man in Corona oder irgendeiner anderen Krankheit, gegen die geimpft werden kann, keine Lebensbedrohung, sondern ein individuelles Schicksal sieht, dem man wie vielen anderen schlimmen Schicksalen, die immer nur anderen irgendwo anders passieren, glaubt einfach umgehen zu können. Wenn man eine weiße Person mit gutem Einkommen, eigener Firma, vielleicht einem deutschen Pass, einer stabilen Gesundheit ist, dann sieht man in dieser Pandemie einfach nicht das gleiche, wie etwa arme, chronisch erkrankte, behinderte, alleinerziehende, Schwarze Menschen und deren Familien, Freund_innen und Verbündete.
Es ist ein Perspektivenunterschied, weil wir Menschen unterschiedlich sind und leben – nicht weil wir unterschiedlich gut oder schlecht mit unseren Traumata umgehen. Es ist hochproblematisch etwas, das so derartig individualisiert wird wie das Leben nach und/oder mit einer Traumatisierung als Grund für hasserfülltes oder aggressives oder bösartiges Verhalten heranzuziehen, weil so ein Verhalten niemals je nur individuell wirkt oder nur ein Individuum trifft. Es trifft immer unsere gesamte Gesellschaft und die Möglichkeiten, mit denen wir einander begegnen können. Aber nie so direkt, dass jedes Verbrechen eines gegen die Gesellschaft ist.
So wird sich allerdings inszeniert unter „Coronaleugnern“/“Querdenkern“/“Impfkritikern“. Jeder Lockdown für alle ist ein Angriff auf ihre ganz persönliche individuelle Freiheit, jede Impfaufforderung ein Zwangsdiktat der Autoritäten über ihre ganz individuellen Lebensentscheidungen.
Dass es niemandem um sie geht, ist eine ganz persönliche Kränkung für sie.

Wie sie darauf reagieren ist logisch.
Es ist traumalogisch, es ist gewaltlogisch, es ist auch individuell menschlich logisch – das ist es nur leider aufgrund der Idee, dass sie immer alles (mit)bestimmen oder sie mindestens von Relevanz sein müssen, bevor irgendwas passiert.

Für Menschen, die immer zu allem befragt werden, die immer in alles eingebunden sind – oder im Gegenteil nie zu irgendwas befragt werden und immer über sie ihre Lage drüber gebügelt wird, ist es natürlich total krass in einem so großen Rahmen wie jetzt in der Pandemie von der Entscheidung darüber, was jetzt zu tun ist, so derartig entindividualiert behandelt und verwaltet zu werden.
Sich in so einer Situation aber dafür zu entscheiden, Lügen übers Impfen, über die Krankheit, über die Intentionen des Staates zu verbreiten ist bösartig. Es ist bösartig, weil es die Leben der Menschen, die darauf angewiesen sind geschützt zu werden – und die diesen Schutz zu Recht für sich einfordern! – niedriger einschätzt, als die eigene Beteiligung, das eigene persönliche Bestimmungsrecht.

Das ist eine Werteentscheidung und nichts weiter. Auch dieses Verhalten, diese Entscheidung darf nicht mit „Ja aber die_r ist traumatisiert…“ begründet oder entschuldigt werden, weil es darum nicht geht und selbst wenn es stimmt, unerheblich ist, weil ein größerer Schaden entsteht, als durch die Traumatisierung entstanden. Auch für alle Menschen, die offen mit ihrer Traumatisierung umgehen übrigens.

In der Konsequenz muss man sich also klarmachen, dass dieser Konflikt zwischen den „Coronalagern“ vor allem ein Wertekonflikt ist, der mit persönlichen Befindlichkeiten aufgeladen wird, um ihm mehr Gewicht zu verleihen.
Da das Leben mit Traumafolgestörungen als eine sehr emotionale (und individuelle) Befindlichkeit behandelt wird in unserer Gesellschaft, kann man so etwas wie diesen Post durchaus als Instrumentalisierung traumatisierter Menschen begreifen und entsprechend verurteilen.

Ja, auch wenn er von einer Fachperson kommt.
Besonders wenn er von einer Fachperson kommt, denn diese werden in allen Zeiten schon vor der Pandemie und sicher auch noch weit darüber hinaus als unsere Fürsprecher_innen und Stellvertreter_innen behandelt. „Wir traumatisierten Menschen“ haben keine Lobby. Wir sitzen nicht im Fernsehen, schreiben nicht über unsere Er_Lebensrealitäten in der Zeitung, werden nicht gefragt, was Hochwasser, mordendes Pflegepersonal, Missbrauchsskandale, Femizidserien oder rassistische Anschläge bedeuten – wir werden als Fallbeispiel erwähnt und für das Spiel auf der Gefühlsorgel missbraucht, um Ziele zu erreichen, die uns nichts nutzen.

Das ist nicht ok und deshalb habe ich diesen Thread geschrieben.