Die Welt ist voller Paralleluniversen

„Und, ich sag mal so, ich habs ja auch nicht alleine beendet.“
Noch eine Woche später habe ich den Satz der Therapeutin im Kopf und merke mein Schweigen dazu wie einen Korken zwischen den Inneren und mir. Sie hats alleine beendet. Sie war diejenige, die nicht mehr konnte oder vielleicht auch nur wollte. Sie war das und sie fängt an, sich die Geschichte umzuerzählen. Mir ist egal warum und wofür. Dass sie es tut, ist für die Inneren ein unverzeihlicher Verrat, für mich die traurige Bestätigung einer Angst, die ich, seit wir anfingen mit ihr zu arbeiten, als diffuses Feld empfand und nie berührte, um den Kontakt mit ihr etablieren und funktionalisieren zu können.

Ich habe nicht darauf reagiert, weil unsere Sprechzeit auf 30 Minuten begrenzt war. Weil wir ihr nichts mehr geben wollen, über dessen Bedeutung wir mit ihr reden müssen. Weil sie jede Reaktion von uns umerzählen wird. Ob bewusst oder unbewusst. Sie wird nicht uns hören, sondern, was sie hören muss und dank ihrer Position hören kann. Sie vermeidet für sich und deshalb uns.
Es ist das gleiche wie vor 4 Jahren, wie vor 5 Jahren, wie vor 8, 13, 15, 19, 22 Jahren, obwohl wir längst nicht mehr die gleiche.n sind und das ist noch das schlimmste von allem.

Am 8. Tag nach dem Satz spreche ich mit Dr. H. darüber.
„Sie ist also ausgestiegen“, hatte er gesagt, als ich ihm vom Ende der Therapie mit ihr erzählt hatte. Ich hatte an eine Zugfahrt gedacht, die sie für sich beendet hat und gemerkt, dass das gut erklären könnte, weshalb ihre Perspektive auf das Ende zwangsläufig eine andere sein muss. Wenn man aussteigt, tut man etwas anderes als die, die den Ausstieg machen. Man denkt an andere Dinge, sieht andere Dinge, findet sich in völlig neue Kontexte ein, als die Leute im Zug und auch der Zug selbst.
Die Welt ist voller Paralleluniversen und sie hat unsers verlassen.

Diesmal sprach ich mit ihm über den Wunsch, dass sie das versteht. Am Ende musste ich einsehen, dass ich von ihrem Verstehen nichts habe außer einen Konsens über meinen Schmerz. Was wertlos ist, weil sie ihn weder ungeschehen machen noch lindern noch ausgleichen oder transformieren kann, wenn sie nicht mehr mit mir verbunden ist.
Ich musste einsehen, dass wir einen Aspekt unserer Traumatisierung wiederholen. Dass wir von ihr das gleiche Verstehen wünschen, wie wir es uns von allen an uns gescheiterten Therapeut_innen vorher gewünscht haben, wie wir es uns von den Erwachsenen in unserer Kindheit und Jugend gewünscht haben, wie manche von uns es sich immer noch von den Täter_innen wünschen, die uns auch Eltern waren.

Alles, was ich tun kann, ist uns vor ihrer Erzählung zu schützen. Den Abstand zwischen uns real werden und ihr die Wahrheit zu lassen, die sie gerade oder vielleicht auch für immer braucht. Ich habe nichts mehr mit ihr zu tun. Es ist nicht mehr relevant, was sie im Kontakt mit mir braucht, wir haben einfach keinen mehr, der auf aktuellem Geschehen, aktueller Verantwortlichkeit beruht, sondern auf dem Umstand lange miteinander zu tun gehabt zu haben. Eine gemeinsame Geschichte, die deshalb weder ihre noch meine ist.