Gegenwart ist auch nur ein Abstand

Die Erkenntnis der Abstände hat mir meine Lehrerin für Werken im Jahr 1994 ermöglicht, nachdem mein dritter Anlauf für ein Werkstück zerknüllt auf dem Tisch lag und ich zwischen Frustheulen und Frustummichhauen auf meinem kippeligen Stuhl vibrierte.

Wieder hatte ich etwas falsch abgemessen, wieder passte nichts zusammen und die Bummelletzte war ich auch schon wieder.
Werken – ich mochte nur meine große weiche Lehrerin.
Die Metallscheren machten ein ekelhaftes Geräusch beim Schneiden, der Kleber stank, der Raum war unübersichtlich und die Vielzahl der Umsetzungsoptionen für einzelne Arbeitsschritte, setzte dem Stimmengewirr um mich herum, ein Analysengewirr im meinem Kopf hinzu.
Werken – es war scheiße mit dir.

Aber.
Das Geheimnis von Zeit und Raum konnte sich mir dort erschließen.
Das Geheimnis ist: Abstand.

Ich kann mir nichts Exakteres vorstellen, als den Abstand zwischen Punkt 1 und Punkt 2 und den Abstand zwischen Tick und Tack.

Seit dem Werkunterricht des Jahres 1994 hatte ich nie wieder Probleme irgendetwas abzumessen, nachdem mir meine Lehrerin erklärt hatte, welche Seite des Zentimeterstrichs die ist, von der ausgehend ich abnehmen sollte.
Wenn ein Zentimeterstrich selbst fast 2 Millimeter dick ist, dann ist das eine relevante Information für mich und ich kann mich erinnern, wie tief es mich beruhigt hatte, dieses Geheimnis gelüftet zu haben.
Abstand.

23 Jahre später stehe ich 2 – wenn ich einen guten Tag habe 3 – Mal in der Woche in einer Werkstatt und binde Bücher oder stelle Broschuren her.
Ich bin immernoch die Bummelletzte, brauche immernoch mehr als einen Anlauf für eine Aufgabe, habe nachwievor meine Alleshinschmeißfrustmomente, aber ich habe noch immer meine weiche Werklehrerin im Ohr, die mir bei jedem Mal sagt, dass es um einen Abstand geht.

Um eine Lücke also. Ein Stück Nichts, das zwischen zwei Dingen passiert.
Einen Zentimeter kann man nicht erschaffen – man kann ihn nur definieren. Also einrahmen. Der Rahmen ist, was erkennbar macht, dass es ihn gibt.

Man sagt immer so leichtfertig, beim Handwerk ginge es um die richtig konkreten greifbaren Dinge. Handwerk, das sei so bodenständig und einfach.
Tatsächlich ist der Beruf des Handwerks jeder Art einer, der dem Nichts etwas abtrotzt, das erst dann konkret da ist.
Handwerk ist, wo übers Defizit definiert wird.

Handwerk ist, vor Nichts zu stehen und keine Angst davor zu haben, weil man weiß wie Abstand herstellbar ist.

Die Erfahrung mit handwerklicher Arbeit erleichtert mir heute auch den Umgang mit dem Viel und Alles aus dem Trauma. Dem ES und DAS DA, das soviel ist, dass es ein neuronales Nichts für mich wird.

Manchmal stehe ich inmitten dessen, was Alltag ist und merke, wie ES an mich heranquillt und so dicht wird, dass die Zeit aus ihrem Rahmen von Tick und Tack gedrückt wird.
Da hilft es mir nicht, mir zu sagen, welchen Tag wir haben. Ein Tag hat 24 Stunden – ein Moment aber nicht. Das Ist, das Hier und Jetzt hat keinen anderen Rahmen, als das Wort selbst.
“Hier” ist nur so lange, wie ich “Hier” sagen kann. Dann ist es weg und nur theoretisch überhaupt je gewesen.
Hier und Jetzt – Gegenwart – so sicher und nicht zerstörerisch, wie es auch ist, kann nur von Zukunft und Vergangenheit gerahmt werden und dann sein, was es ist.

Ich habe also eine Schnur bei mir.
Eine Schnur mit kleinen Knoten, die für Dinge stehen, die in der Vergangenheit waren, an einem Ende und Knoten für Dinge, die in der Zukunft sein sollen, am anderen Ende.
Alles, was ich tun muss ist, diese Schnur in die Hand zu nehmen. In der Mitte. Denn in dieser Mitte bin ich. Eingerahmt von meiner weichen Werklehrerin 1994 und dem Praktikum in einer kanadischen Buchbinderei im Jahr 2020.

Gegenwart ist auch nur ein Abstand.
Nichts, was man sich nicht selbst definieren kann.