Horoskop

Wir glauben nicht an Horoskope. Wir glauben an Wahrscheinlichkeiten. Die Wahrscheinlichkeit, dass entweder alles stimmt oder alles nicht stimmt, verleitet uns in der Regel dazu, sie zu lesen.
In unserem Jahreshoroskop steht, dass es ein Jahr voller überraschender Wendungen wird, aus denen wir unsere Lehren ziehen können, ohne das Gesicht zu verlieren (good to know, wer hat schon Lust auf ein vom Kopf geschmirgeltes Gesicht). Außerdem würden wir viel über uns lernen und uns würden unsere Schwächen schmerzlich klar.
Well… ja. Passiert gerade.

Wir sind zuletzt mit 18 so lange am Stück mit anderen Menschen zusammengewesen, wie in den letzten bald 5 Monaten. Und ich habe das Gefühl jede Woche autistischer zu werden. Oder – um es vielleicht abzuschwächen, weil ich grad nicht einschätzen kann, ob die Formulierung so wirklich richtig ist – einfach mehr und mehr zu merken, wie wirklich umfassend unsere Verquirktheit ist und wie gründlich nicht wir das aus unserem Sein kompensieren können.

Ich versuche oft mich damit zu trösten, dass es mir mit dem Vielesein auch so ging. Es ist mir viele Jahre immer bewusster geworden und dann hab ichs (haben wirs) mehr und mehr verschleiert bekommen. Wer uns neu kennenlernt merkt das Vielesein nicht, merkt auch die PTBS nicht und zusätzlich dazu haben wir nicht nur das Verstecken besser im Griff, sondern auch insgesamt uns, so dass dieses ganz bewusste Verstecken und Wegmanipulieren auch gar nicht mehr so schwer fällt.

In irgendeinem der Bücher, die ich mir in der Zeit nach der ASS-Diagnose aus Verzweiflung reingezogen habe, stand das auch drin. Wie manche später als Autist_innen erkannte Leute drüber abschmieren wie wir und sich dann zunehmend als mehr und mehr autistisch werdend empfinden, wie wir jetzt, und dann aber langsam immer gezielter zu Umgängen kommen. Und dann klar kommen. Irgendwie.

Unser Horoskop hat nichts dazu gesagt, ob wir dieses Jahr noch klarkommen. Im Sinne von „final klar kommen“. „Fertig wegschlucken und gut ist“. Das finde ich dann doch ziemlich enttäuschend.
Die Frage nach dem Wann und Wie ist für mich eine drängende. Ich fühle mich nicht gut, wie wir sind. Mit anderen Menschen und auch mit uns. Eine Perspektive wäre schön.
Am Ende liest man Horoskope doch auch nur dafür. Und (Heil_Behandlungs)Prognosen.

Unsere Prognose war nie schlecht. Wir sind früh als komplex traumatisiert und viele diagnostiziert worden. Haben früher bessere Hilfen und Therapiemöglichkeiten gehabt als viele andere Menschen. Und mit 30 als auch autistisch erkannt zu werden – ja gut, ist spät, aber ist es nicht eigentlich immer irgendwie zu spät dafür?
Eine Perspektive würde uns ermöglichen, einen Zeitplan zu machen. Ähnlich wie die Familienplanung.
Das wollen wir, bis dahin gehts, ab dann ist Schicht, danach kommen Plan A, B, C zur Abstimmung und es geht weiter. Wir wissen, was wir wollen, welche Umsetzungsoptionen da sind, was passiert, wenn es nicht klappt, wie wir uns das wünschen und erarbeiten können.

Was machen wir, wenn wir nur lernen können unseren Autismus zu maskieren, aber eigentlich nie wirklich final klar kommen werden? Was machen wir, wenn klar wird, dass unser Leben einfach immer immer immer für immer in dem Umfang wie jetzt davon bestimmt wird, dem Verstehen anderer Menschen hinterherzustolpern, sich dabei zu verlaufen, eine Klippe runterzustürzen und mit 5 gebrochenen Haxen als letzte_r durchs Ziel zu gekämpft zu kommen?
Was machen wir dann?

Ist das eine Entscheidung auf Leben und Tod, die ich gleichermaßen wahrscheinlich als Traumalogik-Ergebnis wie als rationales Abwägungsergebnis annehmen kann oder gibts da gar nichts zu entscheiden, weil es einfach kommen wird, wie es kommt, weil das Leben passiert und wir mittendrin?

Wollen wir uns in der Sache genauso an die psychologische Optimierungsarbeit binden, wie in Bezug auf die DIS? Immer weiter dranbleiben und jeden noch so kleinen Schritt in irgendeine andere Richtung als zurück zum Fortschritt erklären? Ist das überhaupt vergleichbar?

Zum Glück steht uns kein schlechtes Jahr bevor. Angeblich.
Wir haben Zeit und Raum zur Auseinandersetzung. Vermutlich auch dann noch, wenn unser Jahr doch sehr schlecht wird. Es geht ja nicht anders. Es geht ja nie anders.


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