Behinderung #3 – die Relativität von Behinderung – #DisabilityPrideMonth

Als komplex traumatisierter autistischer Mensch werde ich von Dingen, die mich sensorisch überreizen und sozialen Normen, die meine Regulations- und Kompensationsmöglichkeiten stark begrenzen bis verbieten, pathologisieren oder bestrafen, behindert.
Diese Konstellation könnte so verstanden werden, dass ich immer – jeden Tag im Jahr und überall – behindert werde und bin.
Das bin ich jedoch nicht und das hat etwas mit der Relativität von Behinderung zu tun.

Dieser Begriff ist wichtig für die Auseinandersetzung mit der Frage

Wer ist und wird eigentlich wann wie und warum überhaupt behindert?

In Deutschland kann man sich eine Behinderung amtlich anerkennen lassen.
Dazu stellt man einen Antrag bei der zuständigen Behörde[1], schickt ärztliche Atteste oder Stellungnahmen mit und wartet. Manchmal sehr lange. Und dann kommt ein Brief zurück, in dem drin steht, ob die Behörde die Behinderung anerkennt und wenn ja, in welchem Grad. Liegt der Grad der Behinderung (GdB) bei 50, so wird von einer Schwerbehinderung gesprochen. Dann erhält man einen Schwerbehindertenausweis und hat eine Grundlage, um verschiedene Nachteilsausgleiche zu beantragen.

Dieser Vorgang führt bei manchen Menschen zu der Idee: „Aha, ich muss also nur eine Behörde überzeugen, dass ich es wirklich sehr schwer habe und zack bin ich behindert und kann mir auch noch Vorteile einstreichen.“
Behinderung ist jedoch keine bürokratische Kategorie, sondern eine soziale. Sie erscheint – besonders hier in Deutschland – als bürokratische Kategorie, weil behinderte Menschen und ihre Bedarfe hochgradig bürokratisch verwaltet und behandelt werden.
Und Vorteile bringen Nachteilsausgleiche oder auch Ermäßigungen für schwerbehinderte Menschen praktisch nie. Dazu empfehlen wir die aktuelle Podcast-Folge von „Die Neue Norm“ (Link zur Webseite) und meinen nächsten Text, in dem es um Behindertenfeindlichkeit gehen wird.

Keine Behinderung wirkt immer gleich bzw. stellt sich immer gleich dar. Wenn mir ein Daumen fehlt, ist das anders, als wenn einem professionellen Pianisten einer fehlt.
Aber jede behinderte Person muss das immer gleiche kompensieren. Nämlich die negative soziale Reaktion auf die unerwünschte Abweichung von einer wie auch immer definierten Erwartung und dessen Folge(n). Sowohl der Pianist als auch ich, müssten kompensieren, dass es praktisch keine Kleidungsverschlüsse gibt, die ohne Daumen leicht zu benutzen sind und Ähnliches.

Viele Menschen übersetzen „Behinderung“ auch mit „Leiden“ und erleben die Anerkennung ihrer Behinderung auch als Anerkennung ihres Leidens unter den negativen Auswirkungen der Behinderung und ihrer unter Umständen schlechteren Lebensqualität.
Besonders im bürokratischen Anerkennungsprozess führt diese Übersetzung zwangsläufig zu emotionaler Verletzung, Kränkung, bei manchen Menschen auch (Re-) Traumatisierung.
Da es sich um einen reinen Verwaltungsakt handelt, dessen Hauptanspruch die Einordnung von objektiven Sachverhalten ist, kann diese Anerkennung nicht auch auf der emotionalen Ebene erfolgen.

Auch das Leiden unter oder an (einer) Behinderung ist relativ, da hochgradig subjektiv.
Das bedeutet jedoch nicht, dass das Leiden darunter als Faktor die Relativität der Behinderung im Kontext einer bürokratischen Einordnung bestimmt. Also, dass wer am stärksten leidet, den höchsten GdB anerkannt bekommt.
Im Kontext der sozialen Einordnung hingegen gilt das Leiden unter einer Behinderung häufig noch mit am stärksten als maßgebend. Das liegt an der ableistischen Überzeugung nur „nicht behindert“ lebe es sich angenehm und leidensfrei. Die soziale Reaktion darauf ist in der Regel Mitleid, Infantilisierung, Bevormundung und die Einräumung von Schonräumen, die die behinderten Menschen nicht verlassen können, weil dies zu einer anderen negativen Reaktion führt: Dem Vorwurf nur so getan zu haben als bräuchte man Unterstützung/Hilfe (als ob Schonung immer Hilfe/Unterstützung sei), also implizit dem Vorwurf, eine Person und ihre Reaktion ausgenutzt zu haben.

Das Konzept der Relativität von Behinderung verstanden zu haben, ist also notwendig in der Auseinandersetzung mit der Frage danach wann wer warum behindert ist, aber auch bei der Beantragung einer behördlichen Anerkennung. Vor allem für behinderte Menschen, die unter (der) Behinderung leiden und ihre eigenen Ableismen noch nicht konfrontiert und bearbeitet haben.

 

[1] Link zur Webseite „Besser Leben Service“, wo man für jedes Bundesland die passenden Antragsformulare herunterladen kann.

“Ausbildung inklusive”, Episode 10: “Halbzeit” oder “Warum Punktekonten problematisch sind”

“… die Anpassung des einen, kann das beHindernis, des anderen sein…”

Ein Gedanke, der mir kam, als ich am Tag der Zeugnisausgabe nach Hause ging.
Am Tag vorher hatte ich von meiner Note in Wirtschaftskunde erfahren. Auf dem Schulflur. Zwischen Tür und Angel, denn Wirtschaft in eines der Fächer, das wir uns überwiegend allein zu Hause erarbeiten.
Ich habe eine schlechtere Note, als meine schriftlichen Tests vermuten ließen, bekommen, weil ich nicht alle Wahlpflichtaufgaben des Punktekontos erfüllt hatte. Pudels Kern: Die Wahlpflichtaufgaben sind ohne beständige Präsenz im Unterricht und mit einer Problematik in der sozialen Interaktion und Kommunikation nicht erbringbar.
Das nennt der Volksmund “Arschkarte”, ich sage, dass es eine unfaire Benotung ist.

Punktekonten sind der moderne heiße Scheiß.
Und für manche Schüler_innen super. Wenn sie zufällig Freund_innen in der Klasse haben, immer pünktlich, immer präsent und zufällig die Lerntypen sind, die mit Mind Maps, Vokabelkarten und anderen gut überprüfbaren Mitteln arbeiten können.
Für manche Lehrer_innen sind sie vermutlich auch super. Soweit ich das aus meiner Schüler_innenperspektive sehe, hat man damit ein strukturiertes, klares Mittel der Leistungserhebung, das davon befreit, Schüler_innen individuell und/oder vielleicht sogar von Sympathie beeinflusst, zu benoten. Man kann sein Ding durchziehen. Muss nicht weiter überlegen. Behandelt alle Leistungen gleich.

Jedes Punktekonto ist ein Standard, eine Norm.
Jede Leistung, jeder Punkt, der in einem Halbjahr nicht erbracht wird (werden kann) frisst an der Endnote.
Motivation, Engagement, Eigeninitiative, Kreativität bei der Auseinandersetzung mit den Unterrichtsinhalten werden damit nicht gefördert – viel mehr werden sie für das Konto ab_geleistet.
So ergab ein Gespräch mit meinen Klassenkamerad_innen, dass niemand von uns Vokabelkarten für den Englischunterricht, in dem wir ebenfalls ein Punktekonto haben, verwendet, jedoch fast alle welche haben, um die Punkte aus dem Wahlpflichtbereich zu bekommen.
Was genau ist an der Stelle die Leistung? Die pünktliche Abgabe einer zu erbringenden Leistung ohne persönlichen Nutzen, oder die Englischvokabeln, die im späteren Leben zu persönlichem Nutzen verhelfen sollen?

Aus meiner Sicht sind Punktekonten auch schon deshalb problematisch, weil sie Tür und Tor für lerntoxische und übergriffige Akte im Miteinander von Schüler_innen und Lehrer_innen öffnen.
Ich finde es zum Beispiel grauenhaft, wenn Lehrer_innen meine Mappen einsammeln, um ihre Führung zu benoten – oder “für das Punktekonto zu bewerten”.
Denn meine Mappen sind mein Lern- und Arbeitswerkzeug. Da ist meine Ordnung wichtig. Ich muss damit arbeiten können – und auch damit arbeiten wollen. Das Wissen um die Durchsicht für Punkte und damit auch für Noten hemmt mich.
Tatsächlich entwickelt sich bei mir schnell eine Parallelwelt in der Mappenführung, weil ich 90 % der Arbeitsblätter barrierefrei für mich umgestalten muss. Das heißt: die hübschen Kopien aus dem Lehrerzimmer, landen in der hübschen chronologischen Mappe, mit Deckblatt und Punktekonto und Inhaltsverzeichnis zu den durchnummerierten Seiten
– die Dinge, die dafür sorgen, dass ich verstehe, worum es geht, de zeige ich niemals irgendjemandem.

Meine Lernmittel, sind Notizen, Kringel, Schleifen, für Außenstehende vielleicht wirre Skizzen, diverse Webseiten und YouTube-Videos, in denen mir der Stoff wieder und wieder in Dutzenden Variationen erklärt wird, bis ich durch die Wiederholungen das konkrete Muster finde und mit den Unterrichtsmaterialien und den Worten der Lehrer_innen in Verbindung bringen kann.
Heißt: Die Auseinandersetzung mit den Inhalten ist meine Art zu lernen. Das ist langwierig und manchmal ist es auch gar nicht sichtbar, weil ich die Inhalte in mir bewege und innerlich mit der Umgebung abgleiche.
Mein Weg, um Dinge zu begreifen, führt nicht darüber, dass ich mit anderen darüber spreche oder Vokabeln lerne.
Ich lerne über Mustererkennung und brauche dafür eine Umgebung ohne Ablenkung und mit relativer Ruhe, in der ich mir ohne Probleme oder Sorge um mögliche Unterbrechung, ein Video nach dem anderen, einen Text nach dem anderen, über ein und dasselbe Thema reinziehen kann.

Ich lerne dabei nichts auswendig. Ich sammle die Wörter, behalte die, die am häufigsten genannt werden und mit jedem weiteren Text wird mir ihre Position – ihr Kontext klarer. Diese Kontexte brauche ich nach einer Weile immer weniger angestrengt suchen. Und irgendwann – meistens in der Phase vor einem Test, bin ich dann soweit, dass ich sogar im Unterricht anwesend sein kann, ohne mich daran zu verausgaben, zu suchen, was die_r Lehrer_in erzählt, fordert, beschreibt.

Diesen Teil meiner Lernarbeit zu verstecken, gehört zu meinem Leben seit immer.
Denn: die meisten Menschen können das so nicht nachvollziehen.

Die verschiedenen Lerntypen sind über die Sinnes- und Interaktionskanäle definiert.
Es wird zwischen “auditiven” und “visuellen”, aber auch “motorischen” und “kommunikativen” Lerntypen unterschieden.
In diesem Modell fehlt sowohl die Annahme von Menschen, die nicht nur “visuell ein bisschen und motorisch etwas mehr”-Typen sind, sondern auch die Menschen, deren Sinnes- und Interaktionskanäle ganz anders funktionieren und miteinander zusammen (oder entgegen) arbeiten.

Lernen, das ist bedeutet ja nicht nur, Informationen aufzunehmen und abzurufen.
Lernen bedeutet auch, die Beschaffenheit von Informationen zu erkennen, einzuordnen, flexibel einbringen/anwenden zu können und passend zur Fragestellung abrufen zu können.
Das erfordert neurologische Prozesse, die bei neurotypischen Menschen bereits prima erforscht sind und ergo zu solchen Lerntyp-Einordnungen führen.

Wie man meinen Lerntyp nennt, weiß ich nicht.
Ich kenne keine anderen Menschen, die sich mit Inhalten ganz genauso auseinandersetzen müssen, um sie zu erfassen und in die Lage zu kommen, irgendwas damit anfangen zu können.

Ich kann anderen Menschen oft nicht gut klar machen, wie flach mir das vorkommt, was ich als neue Information erhalte.
So seltsam flach, dass ich es meistens als fast körperlich unangenehm empfinde und dann logischerweise verändern will.
Ich bin keine besonders wissbegierige Person. Bin kein “Streber” oder außerordentlich neugierig. Das, was heute mein großer Wortschatz ist, mein, im Kontext zu meinem Leben, meiner Klasse und der Nichtbildung in den letzten Jahren, erstaunlich breites Allgemeinwissen, ist das Ergebnis von dem angenehmen Gefühl, eine unangenehm flache Information zu etwas werden zu lassen, das sich bewegen, be_greifen, anwenden lässt.

Da geht es nicht darum, dass ich mich dann schlauer fühle und deshalb gut oder überlegen.
Ich fühle mich einfach weniger gestört, unangenehm berührt … dumm … manchmal auch: gequält von etwas, das mir zuweilen sogar Angst macht, weil es so gar keine Tiefe oder Bezüge zu irgendetwas hat, aber DA ist und sich immer wieder bemerkbar macht.

Herrje – was für ein Abschwiff.
Zurück zur schlechteren Note.

Ich akzeptiere die Note so nicht und werde auch im nächsten Schuljahr den Wahlpflichtleistungsteil des Punktekontos in dem Fach nicht so akzeptieren. Die Lehrerin hatte mir keine alternativen Möglichkeiten zur Verfügung gestellt, so dass ich gar keine weiteren Punkte “machen” konnte, als die, die ich erbracht habe.
Die alternativen Möglichkeiten stehen mir als Nachteilsausgleich zu.

notsofunfact: der ist offiziell noch immer nicht für uns beantragt.
Warum? Wir haben das an die Schule bzw. die Menschen, die uns da unterstützen wollen, abgegeben.

Inzwischen ist die Hälfte der Ausbildungszeit um.
Wir haben nach wie vor keine Unterstützung beim Schulweg, bringen die Kosten zur Anpassung des Materials selbst auf, unsere Betreuerin sammelt noch immer Absagen von Behörden, wenn es um die Kostenübernahme der Materialgebühren der Schule geht.
Anfang des Monats kam ein Brief von der Stadt wegen des Antrags auf eine I-Kraft, in dem nach dem “Hilfebedarf des Kindes” gefragt wurde.
Das war der Moment, in dem ich dem Direktor und der Klassenlehrerin sagte, dass ich mich manchmal selbst verletze, um handlungsfähig zu bleiben und gleichzeitig der Moment, in dem wir merkten: seit dem Jahr 2000 hat sich für mich (und damit für uns alle) in Bezug auf das “in einem Schulbetrieb sein und lernen” nichts verändert, außer dem Ausmaß der Scham, das mit so einem “Geständnis” einhergeht.
Und das Alter des Körpers, den wir uns teilen.
Und dem Bewusstsein darum, dass dieses So-sein “Autismus” heißt.
(Also vielleicht doch etwas?)

Wir sind trotzdem nicht unglücklich mit der Ausbildung an sich oder denken, dass wir das gar nicht schaffen.
Wir sind manchmal einfach nur sehr sehr müde.
Müde, frustriert und der Alleinsamkeit mit manchen Dingen so bewusst, dass es eben doch sehr weh tut.