Fundstücke #56

Sie sagt, wenn du magst, kannst du anrufen und mit mir reden. Ich mag das. Sie ist die einzige Person mit der ich rede. Die anderen haben Leben und Leute zum reden. Ich hab sie.

Ich rede von den Gefühlen der anderen, die das gemeinsame Innen so sehr füllen, dass es mich an das Früher drängt, wo es keine Wörter zum Reden gibt. Sie fragt, wie das für mich ist. Ich antworte, be_drückend.

Sind die anderen auch bedrückt, fragt sie und ich sage nein. Sie stehen unter Druck. Das ist alles.

Was könnte helfen fragt sie. Ich sage, schlafen. Ruhe. Pause. Langweile. 1-2-1-2-1-2-Tage. Abstand. Und Wörterwurzeln.

Wörterwurzeln?, fragt sie.

Ja, Wörterwurzeln, antworte ich. Zum Halt er_leben.

Frei- von- heit

145840_web_R_by_bbroianigo_pixelio.deFrei- von- heit
Schnurstraks darauf zu gestolpert, gefallen, aufgerappelt und immer weiter im Takt des pulsenden Wunsches auf Erfüllung einer Hoffnung.
Und plötzlich setzt er aus.
Der Boden bricht weg.
Ein Fallen oder ein Schweben?

Haltlosigkeit bringt beides hervor.
Was jetzt?
Fragen kann man stellen. Aufstellen. In sich hineinbohren, wie in ein Nadelkissen und hoffen, dass sie zu einem Verbindungsglied werden. Vielleicht eine Antwort finden und darauf eine Siedlung erbauen lassen.

Mit jeder nicht beantworteten- ignorierten- herabgewürdigten Frage, bohre ich sie mir tiefer hinein und blute irgendwann sogar nach Außen. Irgendwann schmerzt jede Berührung und niemand sieht mehr warum.

Aus mir brechen nur noch Wortbrocken und geronnener Schmerz. Ich bin unverständlich, wie mein Befragtes, kann mich nirgendwo mehr lagern, ankommen, passen, irgendwo sein, ohne blindtaubstumm vor Weh zu sein.

Über allem liegt dieser drückende Nebel aus Unsicherheit bis zur handfesten Angst auf allen Ebenen.
Bindungsunsicherheit durch Abwesenheit von Halt.
Verhaltensunsicherheit durch Ver- Halt. Stasis aus Angst vor der Angst.
Überzeugungsunsicherheit durch Abwesenheit von Be-Zeugung.

Wo bin ich? Was mache ich? Was ist jetzt? Wer bin ich? Was will ich? Was kann ich? Was darf ich?
Wo sind die Menschen? Was machen sie? Was ist jetzt mit ihnen? Wer sind sie eigentlich? Was wollen sie? Was können sie? Was dürfen sie?

Habe ich zu viel in Frage gestellt? Warum gibt es keine Antwort? Oder bemerke ich sie nicht? Stehe ich eigentlich schon längst in meiner Siedlung und habe es noch nicht gemerkt? Wenn ja, wieso merke ich es nicht? Woran sollte ich es denn merken? Ist es die Abwesenheit von Schmerz auf die ich warte, die aber nie kommen wird? Muss ich das jetzt für immer aushalten? Ist das Ziel „Freiheit“ also eigentlich von Anfang an ein Trugbild gewesen? War ich so durstig, dass ich eine Fata Morgana sah und Sand zu trinken versuche? Habe ich noch die Kraft für den Weg zurück? Würde ich ihn überhaupt zurück finden? Kann ich überhaupt noch irgendeinen Weg sehen?

Da ist ein Schaukeln und Ruckeln um mich herum. Ist es der Rhythmus, der sich weiter drehenden Welt oder sind es Halluzinationen kurz vor meinem Auseinanderbrechen?

Nein.
Es sind die Frontgänger, die mir die Fragen aus dem Sein zu operieren versuchen. Zaghaft, mit feinsten Pinzetten. Eiterpralle Abszesse aufstechend und mit neuen Lebensoptionen füllend. Blutverlust mit Solidarität auszugleichen versuchend, während die Federn des Schwans mit mir verdreckt werden. Meinem Gedankendreck. Meinem stinkenden Angsteiter. Den Splittern von meinem inzwischen verwestem Weltbild, das mich nicht mehr tragen kann.

Ich verdrecke alles. So bin ich wohl.

Doch, egal wie oft ich ihnen in dieser Operation sage, dass sich nicht mit mir beflecken sollen; ich es nicht aushalte und sehe, dass auch sie schweißbedeckt und zitternd arbeiten… Es mir leid tut, ihnen ihren Schwan zu verdrecken… sie machen weiter und sagen mir, ich solle sehen, wie alles von den Federn tropft.

Es ist eine Operation mit ungewissem Ausgang. Bei vollem Bewusstsein und ohne Hilfe von erfahrenen Operateuren. Das ist bei neuen Verfahren wohl immer so.
So ist es wohl in der neuen Welt der Frei- von- heit.
Ich weiß nicht, ob der richtige Patient dafür bin.
Und niemand beantwortet mir diese Frage.

Ewigkeit

“Hallo?”
-“…” Anlauf… Druck- Atem im Gaumen ballen, Zunge formen
”C.? Seid ihr das?”
– “…” Anlauf… Luft zusammenpressen-  Luft woher? Zu was soll es werden?
Mehr als ein ersticktes Schniefen kommt nicht raus.
”Ich schick dir eine SMS, halte das Handy ans Telefon dass ich höre, dass sie da ist, ja? Wir haben das abgesprochen, damit ich weiß dass ihr das seid, okay?”

Das Mädchen steht im Arbeitszimmer als das Mobiltelefon auf dem Tisch vibriert.
”Ah ich höre es, okay.” Es raschelt am anderen Ende. “Wer ist denn da? Kennen wir uns schon?”
– “…” sie atmet ein, spannt alles an und würgt doch nur leere ungeformte Luft hervor.
”Hast du Angst? Was ist passiert?”, mehr zu sich als zu dem Kind sagt sie: “Ihr seid sicher.”

[Nein kann ja gar nicht sein, ich hab grad… da war grad ich hab doch gesehen… da ist doch… kann doch wieso sicher… ist doch nicht sicher wenn… da ist doch!!! Weißt du da… da da daaaa da…!!!]

“Traust du dich in die Küche? Im Frostfach ist eine Tüte mit Suppengemüse- leg dir die mal auf den Bauch.”

[Ich… und wenn da… und was wenn… ich nein ich beschütz mich doch da ist… und wenn ich jetzt sterbe was wenn… ich hab doch… da ist doch…  ich kann nicht]

“Ich ruf sofort die Polizei und H. an, wenn ich höre, dass was passiert! Fest versprochen! Dann kommen sie alle zu euch und helfen euch. Das geht ganz schnell. Die sind dann in ein paar Minuten da. Versuch mal in die Küche zugehen. Das Kalte hilft dir vielleicht. Du bist ja ganz außer dir.”

Ich kralle mich in ihre Worte, die Sicherheit der Gemeinsamkeit- höre sie durch Nebelwatte und kann fast lachen. Denn ich bin außer ihr. Ich stehe daneben, schwebe um diese Szenerie.

Ich nehme einen der Fäden auf, der von dem Mädchen herunter hängt und ziehe es in die Küche, lasse es in das Frostfach fassen. Halte ihren Arm damit sie das Telefon nicht fallen lässt.
”N.? Ich könnte mir vorstellen, dass du irgendwo mit bei euch herumschwebst und mich hörst. Kannst du versuchen etwas zu sagen?”, sie wartet und ich fühle mich ertappt. Plötzlich bin ich unsicher- nicht wegen der Situation, sondern wegen der Sicherheit mit der sich eine Außenstehende in unserem Sein bewegt.
”Nicht vergessen- nicht die Hand im Eisfach liegen lassen. Nehmt lieber das Gemüse in die Hand und legt euch die Tüte auf den Bauch.” Ich höre wie sie sich in ihrem Bett zurechtwickelt und werde erst jetzt gewahr, dass es halb 5 am Morgen ist. Die Arme…

“Gehts? Kannst du langsam was sagen?”
Die Nebelwatte löst sich unter dem Eis auf, die Dämme brechen.
Das Mädchen weint und weint und weint.
Ihr hemmungsloses Schluchzen wird zu einem Damm um sie herum. In solchen Fluten würde ich ertrinken. Alles was ich machen kann ist warten und es sich leerlaufen lassen. Ich versuche das Innen zu lichten. Eine Hilfe für sie zu finden.
”Ja… wein dich aus… ist okay. Ich warte.“

Anlauf… Luft… eine Form im Kopf wird zur Form im Mund… wird zum Wort… Absprung
Sie spricht.
Sie wird getröstet, beruhigt, im Heute orientiert.
Sie löst sich auf und wird zu einem der kleinen Herzen, dass in der Brusttasche von jemandem behütet wird.

“Hm, bist du noch da?”
-“Ja, ich bin da.”
”Na? Lust auf Suppe heute Abend?”
-“Hm?”
”Das Gemüse müsste jetzt langsam aufgetaut sein.” sie kichert.
-“Entschuldige.” Ich versuche den Körper irgendwie zu sortieren und die Tüte wieder ins Frostfach zu legen. “Ich weiß nicht, wieso wir so zerfallen im Moment. Mehr als Wahlwiederholung ging nicht.”, ich wische das Gesicht frei und atme durch.
573956_web_R_by_Rainer Hörster_pixelio.de
”Es ist okay- wirklich! Ich hab da schon was im Kopf, wieso das alles grad so krass ist. Aber ich bin keine Expertinesse- ihr müsst das mit eurer Seelenfrau unbedingt irgendwie auf die Kette kriegen. Wann ist wieder Termin?”
– “Donnerstag”
”Oh man…das ist ne Ewigkeit in Kinderrechnung”

Ja…
oh man
Das ist es auch ohne Kind zu sein.