Vor einigen Tagen habe ich erfahren, dass ich eine angeborene Fehlbildung am Fuß habe. Sie ist nicht schlimm, stört nicht im Alltag, wird mir jedoch das Alter unangenehm machen, wenn ich mich nicht kümmere.
Also kümmere ich mich.
Ich lasse mich anfassen. Vermessen. Spreche mit Fachpersonen. Lerne. Übernehme die Verantwortung für meine Zukunft und meine Gesundheit.
Als erwachsener Mensch muss ich das und kann es glücklicherweise auch.
Alles ist in Ordnung. Ich kann das, ich mach das.
Aber.
Ich erinnere mich auch an den Moment, etwa 4 Jahre nach meinem Weggang von der Herkunftsfamilie, in dem jemandem aufgefallen war, dass ich nicht gut sehen kann. Wie wir zusammen beim Optiker waren und der sagte, dass ich schleunigst zum Augenarzt sollte. Von dem Augenarzt lernte ich, dass so eine Ohrfeige, wenn sie passend landet, nicht nur für das Trommelfell verheerende Folgen haben kann. Aber ich noch Glück hatte. Und eine starke Hornhautverkrümmung auf dem anderen Auge.
Und ich erinnere mich daran, dass meine Mutter mir irgendwann völlig random erzählte, ich hätte jahrelang logopädische Therapie gehabt. Ich konnte nur eine Erinnerung daran ranholen. Nämlich die, in der die Logopädin sagte, ich hätte eine Kongolippe, weil ich immer den Mund offen habe. Heute weiß ich, dass meine gebrochene Nase nie gerichtet wurde und, wer weiß warum, einfach nie richtig im Sinne von anatomisch korrekt geschluckt habe und auch nie die richtige Zungenruhestellung hatte.
Alles Sachen, die mich heute nicht beeinträchtigen. Die kein Ding sind.
Jedenfalls nicht mehr, seit sie mal ein Ding für mich waren.
Aber immer wurde ich davon überrascht zu erfahren, dass ich sie überhaupt hatte. Und bestimmte Dinge deshalb einfach ein mit Schmerzen verbundener Akt oder eine Unmöglichkeit sind.
Laufsport zum Beispiel. Jede Schuhart außer Barfußschuhe und Gymnastikschläppchen. Bestimmte Lebensmittel oder Gerichte.
Ich bin froh, dass ich nicht mehr mit meiner Familie lebe. Aber in Bezug auf diese Dinge macht es mich traurig, sie nicht einmal fragen zu können. Gerade diese Art der Fehlbildung wird bei Erwachsenen als sehr selten beschrieben. Babys, Kleinkinder und Schulkinder können behandelt werden, sodass sich diese Fehlstellung verwächst.
Ich möchte nicht glauben, dass meine Eltern sich nicht darum gekümmert haben. Die Logopädie-Behandlung und auch die Zahnspange, die ich lange trug, sprechen für mich gegen die Annahme, dass sie sich nicht gekümmert hätten.
Der traurige Gedanke für mich ist, dass sie sich vielleicht darum gekümmert haben – aber nicht um mich. Vielleicht ist das üblicherweise auch nicht wichtig. Aber vielleicht doch? Vielleicht muss man den eigenen Kindern doch mal erklären, wozu irgendwas gemacht wird? Vielleicht hängt an dem, wie Familie in ihrem Erinnern als Gruppe funktioniert, noch viel mehr als nur die Chance, ein umfassendes Bild von der eigenen Persönlichkeit zu bekommen?
Neulich stellte ich mir vor, wie meine gekränkten Eltern damals nach meinem Weggang in der Küche saßen und dachten: „Sie wird schon noch sehen, was sie davon hat“, wissend, dass ich ohne Brille und orthopädische Einlagen sowie einer Informationslücke über meine mechanischen Probleme im Kopfbereich, auf eine Zukunft zuging, die so scheiße wäre, wie sie es mir in dem Moment nur wünschen konnten.
Und dann fragte ich mich, was sie sehen würden, würden sie wissen, dass ich heute so ein gutes, stabiles, an vielen Stellen viel heileres Leben führe als sie das damals in meinem Alter hatten. Ob meine stets von mir beschämte Mutter stolz auf mich wäre, hätte sie von mir erfahren, wie ich das Reden mit der Schuhmacherin hingekriegt habe.
Und ob mein ständig von mir enttäuschter Vater mich anspornen würde, immer weiter dranzubleiben, bei dem, was ich mir mit dem Handball vorgenommen habe, weil es eben kein Quatschquark, sondern einfach ein ganz übliches angemessenes Wunschziel von mir ist. Und ich schon so viel hingekriegt habe.
Dann merkte ich, dass es meine Therapeutin, meine Freundin K. und mein Mann sind, die das machen. Und dann merkte ich, dass mich das nicht froh gemacht hat, sondern unfassbar traurig. Obwohl ich auch dankbar bin. Und es gar nicht anders haben will. Und es eh – hallo, was ist das für ein großes Glück?!
Aber es sind nicht meine Eltern.