Offenheit mit eigenen Opferschaftserfahrungen als emanzipatorische Umgangsentscheidung

Neulich stolperte ich über eine Auseinandersetzung, in der es um ‘Opferpositionen’ und ihre Rolle im emanzipatorischen bzw. feministischen Diskurs ging.

Da wir nun einmal ein Opfer von Gewalt wurden, sind solche Auseinandersetzungen für uns schwierig und letztlich gehen wir vorsichtshalber immer erst einmal davon aus, dass unsere Verletzlichkeit an der Stelle schnell zu Gefühlen führen, die wir nicht hätten, wären wir nicht so konkret betroffen. Das bedeutet: Wir als früheres Opfer hören Personen, die über Opfer und zu Opfern gewordene Personen sprechen zu und ziehen von unseren reaktiv auftretenden Emotionen ein Drittel bis die Hälfte ab.

Denn wir haben gelernt: “Wenn andere über Opfer oder zu Opfern gewordene Personen reden, hast du als ehemaliges Opfer
a) die Klappe zu halten , weil du
b) keine objektive/vernünftige/fachliche/professionelle/richtige Ansicht dazu haben kannst, weil du
c) selbst mal Opfer warst und damit im Falle einer Äußerung
d) ganz eigene subjektive/unvernünftige/unsachliche/falsche Ziele mit jeder Aussage verfolgst, was ergo
e) bedeutet: man muss/braucht/sollte dir sowieso und überhaupt weder zuhören noch deine Worte ernstnehmen, anerkennen und als glaubhaft einstufen, falls doch etwas von dir zu vernehmen ist.”

Ich habe erkannt, dass es sich hierbei um Gewalt und Diskriminierung aufgrund von Vorurteilen und Ergebnissen gelebter Gewaltkultur handelt.
Ich habe aber auch erkannt, dass diese Art der Gewalt so alltäglich und verinnerlicht ist, dass viele Menschen dies nicht merken und entsprechend anerkennen.

Diese Erkenntnisse haben wir uns also so einsortiert, dass wir selbst uns die Hälfte der eigenen Gefühle als unangemessen und falsch abschneiden. Um sie uns dann in einem angemessenen Setting wieder zu erlauben, was uns in der Regel einige Stunden Tage kostet und letztlich dazu führt, dass wir uns nur noch sehr selten mit solchen Auseinandersetzungen befassen.

Wenn in dieser verbliebenen Hälfte eine Empfindung ist von der ich glaube, dass sie, wenn ich sie gut begründe und klar markiere, dass ich davon ausgehe mich vielleicht auch zu irren (weil ich ja weiß: “reaktiv” ≠ “durchdacht und reflektiert” ergo “nicht konstruktiv”), von meinem Gegenüber nachvollziehbar ist, teile ich sie mit.

Und weil ich abwäge zwischen “Anstrengung ein komisches Versteckspiel um die eigene konkrete Betroffenheit + Anstrengung mit einer anderen Person über ein Thema zu sprechen, von dem ich selbst konkret betroffen bin” vs. “Anstrengung mit einer anderen Person zu einem Thema zu sprechen, von dem ich selbst konkret betroffen bin allein” – wähle ich ich oft eher den Weg der Offenheit.

Das bedeutet nicht: “Hey ich bin total offen damit zum Opfer geworden zu sein – ich hab das nämlich alles schon total verarbeitet und kann da jederzeit und mit allen drüber reden”, sondern: “Hey – das hier wird für mich zu schwer, wenn ich nebenbei auch noch was verbergen muss. Also: ich bin konkret betroffen – ich wurde selbst zum Opfer. Das ist ein  Teil des Hintergrundes meiner Argumentation.”.

Für mich ist es wichtig, dass dies für mein Gegenüber klar ist und anerkannt wird.
Und gäbe es eine weitere Verbreitung gegenseitiger und bedingungsloser Annahme und Respekt, würde es andere Menschen weitaus weniger verwirren, erschrecken – und misstrauisch machen, gäbe es auch kein Problem an meiner Vorgehensweise.

Offener Umgang mit eigener Opferschaft bedeutet für viele Menschen eine Wendung im Diskurs, die etwas von ihnen verlangt. Es gibt keine allgemeine Haltung nach der die Erwähnung eigener Opferschaft genau keine weitere Reaktion notwendig macht. Kaum jemand erwähnt die eigene Opferschaft im ganz üblichen Gespräch und niemand erklärt ein Gespräch, in dem auch Opferschaftserfahrungen vorkamen, als eines der üblichen, die man halt so hat.
Und genau das ist das Problem.

Das große Schweigen über Gewalterfahrungen, das immer wieder erwähnt wird, gibt es meiner Meinung nach nicht.
Es gibt ein Schweigen, wenn es darum geht etwas zu erreichen. Etwa in Kontexten der juristischen und polizeilichen Strafverfolgung. Doch das ist kein Schweigen über Gewalterfahrung – das ist ein Schweigen über Opferschaftserfahrungen innerhalb eines Machtkontextes, der sich auf genau zwei Positionen konzentriert: Opfer und Täter_innen und diese unterschiedlich bewertet bzw. beurteilt.

Wir haben diese Dichotomie im Alltag, in der Sprache und auch in den Diskursen, entlang derer sich zu positionieren und auch zu kultivieren versucht wird. Dies erschwert Opferschaft(erfahrungen) als einen allgemein möglichen Hintergrund einer Person im Diskurs anzuerkennen ohne reaktive Bewertungen und Imperative folgen lassen zu müssen.
Das ist der Punkt weshalb es opferfeindliche Begriffe wie “Opferabo”, “Opferperformance” oder die Formulierung “die Opferkarte spielen” gibt, die transportieren, dass Opferschaft etwas ist, das etwas zur Folge hat bzw. darauf abzielt zu etwas benutzt zu werden, das jemandem etwas bringt. Positive Aufmerksamkeit zum Beispiel. Oder Mitleid. Oder weniger strenge Beurteilungen und Bewertungen von Fehlern. Mehr Flausch.

Ich erlebe durch meinen offenen Umgang mit der eigenen Opferschaft in der Regel nervig umständliche Furchtsamkeit, allgemeine Umgangsunsicherheit, den Wunsch stellvertretend etwas gut für mich zu machen, derailing, Leidvergleiche und oben beschriebene Absprache von Verstand, Vernunft, Berechtigung mich weiterhin zu äußern.
Nichts davon ist etwas, womit ich gut umgehen kann und nichts davon ist etwas, das mir gut gefällt oder gut tut. Aber alles davon gehört zu verinnerlichter Gewaltkultur und hat genau nichts mit mir und meiner Opferschaftserfahrung zu tun.

Ich kann Menschen die Furcht vor Kontakt (Teilhabe, Zeugenschaft – also Mitkenntnis und daraus auch Mitverantwortung in einem weiteren und zukünftigen gemeinsamen Kontext) nicht nehmen, wenn der Umgang einzig unüblich ist. Wenn es immer special irgendwas bedeutungsvolles hat, dann kann es nicht üblich werden und dann kann es in den Köpfen und Erwartungen der Menschen, mit denen ich zu tun habe, auch nie zu etwas werden, das im Zusammenhang mit anderen Menschen, die ihre eigenen Opferschaftserfahrungen transparent machen, nicht mehr als etwas gilt, das synonym mit “die Person will jetzt was von mir” ist.

Es gibt Menschen, die zu Opfern wurden, für die es ein Weg ist Menschen schonungslos zu behandeln, wenn es um die alltägliche Realität von Gewalt geht.
In meinem social media – Kosmos begegnen mir immer wieder mal Personen, die es für wichtig und angemessen halten Gewalterfahrungen in allen möglichen Details zu schildern um niemanden zu verschonen, so wie sie selbst nicht verschont wurden.
Für mich ist das eine Form Gewalt weiterzutragen und kein inhaltlicher Diskursbeitrag. Leider ist es nicht üblich offen als zu Opfern gewordene Menschen auftretende Personen auf gewaltvolles Handeln aufmerksam zu machen. Schon gar nicht gibt es genug etablierte Praxen anzuerkennen und zu verinnerlichen, dass eigene Gewalterfahrungen nicht davor schützen selbst Gewalt auszuüben.

Gänzlich außen vor bleibt im derzeitigen Diskurs die Zeug_innenschaft und die Auswirkungen dessen sind fatal, denn häufig gelten Zeug_innen als gar nicht betroffen von der Gewalt, die in ihrem Beisein geschehen ist oder von der sie erfahren haben. Und wo keine Betroffenheit zugestanden wird, da wird neben einem Leiden unter Belastungsreaktionen auch abgesprochen, eine Mitverantwortung oder Mitbeteiligung oder noch schlichter formuliert: Teilhabe an dem Geschehen zu haben und/oder empfinden zu können.
Durch die Ignoranz von Zeug_innenschaft als wichtiger Bestandteil des Miteinander (auch und gerade im Fall von Gewalt im Sinne einer Schädigung) wird ignoriert, dass es eine Mitbeteiligung gibt, die neben “das gute zu flauschende Opfer” und “die bösen zu hassenden Täter_innen” steht.

Viele Zeug_innen wollen nichts mit der Gewalt zu tun haben. Manche, weil sie sich nicht der Mitverantwortung stellen wollen. Manche, weil sie selbst ihre Zeug_innenschaft nicht reflektieren. Manche, weil sie keinen Anhaltspunkt für die Relevanz dessen finden können.
Die meisten Zeug_innen halten sich selbst für irrelevant, weil sie innerhalb der offiziellen Dichotomie zur Klärung von Opfer-Täter_innenschaft im juristischen Kontext keine relevante Rolle innehaben.

Für uns sind Zeug_innen hingegen sehr wichtig. Unsere Therapeutin ist für uns neben ihrer Rolle als unsere Begleiterin in unserem Auseinandersetzungsprozess auch eine Zeugin für ebenjenen Prozess geworden. Wir sprechen mit ihr über unsere Gewalterfahrungen und damit wird sie automatisch auch zur Zeugin.
Durch ihre Zeuginnenschaft (unabhängig davon, ob sie uns in unserer Opfer- oder Täter_innenschaft bestätigt oder negiert!) wird die geteilte Erfahrung zu etwas, das tatsächlich war. Sie wird zu etwas, das nicht zu leugnen, nicht zu ignorieren und deshalb auch zu verarbeiten ist.

Letztlich ist es ihre Zeug_innenschaft, die uns selbst davon entlässt eine Bewertung oder reaktive Beurteilung unserer Rolle überhaupt vornehmen zu müssen. In dem Moment, in dem wir die Gewalterfahrung miteinander teilen (bzw. wir sie ihr mit_teilen) entsteht für uns ein Raum gemeinsamer Betroffenheit bzw. ein Raum, in dem wir spüren, dass wir über ein gemeinsames Wissen um eine Erfahrung miteinander verbunden sind. Darüber treten für uns ganz konkrete Umgangsfragen in den Vordergrund, die durch wertungs- und urteilszentrierte Diskurse häufig eher unnötig verzerrt und gestört werden.

Unsere Gemögten, Gemochten und Bekannten sind ihrerseits aber auch wichtige Zeug_innen für uns. Auch mit ihnen teilen wir gemeinsame Kenntnis von Opferschafts- und/oder Gewalterfahrungen (aber natürlich auch vielen anderen Erfahrungen!) und erleben uns darüber miteinander verbunden.
Auch hier entstehen Umgangsfragen, die letztlich sehr gut auch in emanzipatorische Diskurse einfließen.

Ich möchte nicht, dass das Mitteilen meiner Erfahrungen dazu führt, dass sich andere Menschen unfrei in ihren Entscheidungen und Wahlmöglichkeiten fühlen, nur weil wir miteinander verbunden sind. Eine Auffassung der Zeug_innenschaft an der Stelle ist genau deshalb auch hilfreich, gerade, weil sie von der beurteilenden oder wertenden Instanz entbunden sind.

Wir möchten auch nicht, dass unsere Mitmenschen bewerten oder beurteilen, was wir erlebt haben. Weder die Erfahrungen selbst, noch unseren Umgang damit, denn letztlich sind wir die Person, die diese Erfahrungen gemacht hat und mit den Konsequenzen leben muss. Egal, ob bezeugt oder nicht. Egal, ob bewertet oder nicht. Egal, ob beurteilt oder nicht. Egal, ob als wahrhaft anerkannt oder nicht.

Unsere Offenheit mit unserer früheren Opferschaft ist, neben ganz schlichten Versuchen die eigenen Kräfte zu schonen, also eine auch emanzipatorische Umgangsentscheidung.
Wir erwarten keine Rücksicht, keinen Flausch, keine milden Urteile. Wir erwarten, dass unser Erfahrungshintergrund mitbedacht und anerkannt wird – unabhängig von Täter-Opfer-Dichotomie und anderer gewaltkultureller Praxis.
Wir hoffen, dass Zeug_innenschaft etabliert wird. Wir hoffen auf Verbindung und Miteinander.

Wir wollen einen Diskurs, der sich endlich den Umgangsfragen widmet.
Unsere Offenheit ist ein erster Schritt darauf zu.