unterwegs #3, Möwen, Verunsicherung und eine getötete Auster

„Möwen sind schon übertriebene Tiere.“, denke ich, als ich auf dem Dach des Platzhaupthauses drei Exemplare beobachte, die sich scheinbar anschreien vor Lachen.

Übertrieben ist auch der Temperatursturz. Heute zeigt das Thermometer 15°C – wir tragen sehr leichte Sommersportsachen. Das Zelt schlackert im Wind und weckt uns immer wieder mit seinem Plastikklatschgeräusch.

Dabei ist schlafen genau das, was wir heute brauchen. Ausruhen, liegen, Mineralien und Kraft tanken. Dass es zwischendurch immer wieder regnet macht dieses Vorhaben leichter.

Am Nachmittag bin ich so genervt von den Zeltgeräuschen, dass ich die Kühle draußen vorziehe. Wir packen eine Gurke und etwas Obst ein, füllen die Wasserflasche auf und laufen zum Strand. Es ist viertel 3, als wir starten und halb 8 als wir in Norddorf ankommen. Müde, hungrig und inzwischen ziemlich verfroren.

Wir warten auf den Bus, fahren zum Platz, essen und gehen schlafen.

Niemand spricht mit uns mehr als „Moin“. Der Kellner auf der Fähre war der Letzte, zu dem wir etwas gesagt haben.

Heute, am Montag, denke ich darüber nach, morgen kurz nach Hause zu fahren. Das Zelt nervt so sehr, dass andere Dinge wie Kälte, Wind, lange warten bis das Wasser kocht und das, durch die Stille in uns viel leichter hochkommende Innen, schwerer zu managen sind.

Ich werde unsicher, ob das alles jemals aufhören wird. Kann mich denn nicht einmal ein Zelt einfach nur nerven? Muss denn immer irgendwie auch gleich alles andere schlimm bis unaushaltbar werden, nur, weil eine Sache komisch guckt oder nervt?

Ich will nicht weiter darüber nachdenken. Ich will denken: Ich kriege das hin. Alles.

Weil ich mir nicht genug glaube, bitte ich die Therapeutin uns anzurufen. Ich will sie bitten mir das zu bestätigen. Dann geht’s meistens.

Wir fahren nach Wittdün, finden nur Touristenquatsch für den man bezahlen muss. Dann fahren wir nach Nebel und fahren von dort aus an den Salzwiesen vorbei bis nach Norddorf. Es windet. Uns ist kalt. Die Bewegung hilft.

Wir fahren so weit wie es geht nach Norden und laufen dann bis zur Nordspitze. Das Vögelgekreisch, der Wind, das Pickeln und Pieksen der Muschelschalen an den Füßen, alles wärmt uns auf und gibt uns das Gefühl, okay hier und jetzt zu sein, so wie wir sind.

Halb 6 beginnt die Wattwanderung, für die wir uns dann doch noch entschieden haben. Wir lauschen, fragen, erleben. Haben einen sehr veganen Moment, als wir dem Mann, der bereit ist eine frisch geöffnete Auster zu essen, sagen, dass er jetzt ein lebendes Tier essen wird. Und als wir in die giggelnde Runde sagen, dass wir ja froh sein können, dass man dieses Tier nicht schreien hört.

Ich finde es abstoßend. Alles an der Aktion erscheint mir barbarisch. Nicht, weil sie es tun oder geschehen lassen – das tue ich ja selbst auch bzw. würde es im Notfall wohl auch tun. Aber die Profanität des Tötens, die Legitimation – das schüttelt mich und triggert Erinnern im Innen. Diese Auster ist für Neugier gestorben – das kann doch nichts sein, womit man wirklich und ohne jeden Zweifel okay ist.

Wir entfernen uns von der Gruppe. Essen Seespargel und Seesalat. Beobachten Seeschnecken und Möwen. Fusseln mit Schlick bis der Wattführer die Runde für beendet erklärt.

Jetzt sitzen wir am Haupthaus des Campingplatzes, tippen diesen Text, haben ein warmes Gesicht und die Versicherung unserer Therapeutin, dass wir das alles schaffen.

Die Fähre nach Dagebüll geht um kurz nach 3. Genug Zeit für Inselpost und einen ersten letzten Kaffee in einem Touristenquatschcafé.

Die nächste Station ist Süderlügum. In ein paar Tagen kommt J. uns auf der Tour besuchen. Darauf freue ich mich schon jetzt.

Und auf wärmere Temperaturen. Darauf auch.