unterwegs #2, Soulfood

„Jaaa, aber das ist doch alles kein SOULFOOD“, sagt J. mit zusammengeknautschtem Gesicht, als ich ihm von unseren veganen Getreide- und Linsengerichten auf der Tour erzähle. Er möchte, dass es uns gut geht. Dass wir gut versorgt sind. Dass wir glücklich sind.

Als wir am Morgen im Husumer DM-Markt stehen und weitere drei Päckchen Cashewmilch greifen, denke ich an diesen Moment zurück.

Nach den Hafermilchdramen auf der letzten Tour, sind wir froh um diese kleinen Portionen. Glücklich, nicht auf unsere Morgenroutine aus Wasser, Milchkaffee und Haferbrei verzichten zu müssen.

Wenn wir Leuten davon erzählen, wie gern wir unterwegs sind, dann können sie das oft nicht mit uns verbinden: jeden Tag woanders sein, was anderes machen, was anderes essen, als sonst.

Für uns ist aber genau das ein Privileg. Vielleicht auch, weil wir es uns nachwievor im Alltag nicht erlauben ganz und gar so zu leben und zu sein, wie wir es wollen und brauchen.

Wir würden sehr gerne jeden Tag das Gleiche essen, anziehen, machen. Aber gegen die Angst, die intrusiven Empfindungen und Gedanken, die darauf folgen, kommen wir nachwievor nicht an.

Als wir später in der Tankstelle von Hattstedt ein Paket mit Quatsch, den wir mitgenommen haben, aber doch nicht brauchen können, aufgeben, quillt mir eine Erinnerung an ein Zeltlager hoch.

Eine Geburtstagskarte an meinen Vater, in dem auf der einen Seite mit gelbem Filzstift der Glückwunsch steht und auf der anderen Seite die Bitte darum abgeholt zu werden.

Das Zeltlager auf Poel mit den Falken. Mit dem Neptunfest, dessen Konzept wir bis heute weder verstehen, noch so witzig finden, dass man es dringend wiederholen muss.

Beim Neptunfest verkleiden sich alle meerisch als Fisch oder Krebs oder Meermensch oder so etwas. Dann sitzen alle am Strand und werden von Neptun „getauft“. Der Name wird ausgerufen und es wird erwartet, dass man wegrennt. Nicht, so wie wir, sich meldet. Denn man muss ein widerliches Getränk trinken und wird mehr oder weniger dazu gezwungen, weil „Neptuns Hescher“ eine_n festhalten.

Wir wurden damals „lahme Seekuh“ getauft und hatten durch die ganze Aktion jegliches Zutrauen, jeden Spaß, jeden Bezug zu dem Camp verloren. Die Karte zu schreiben, war ein Rettungsgesuch. Ich glaube nicht, dass es beantwortet wurde.

Jetzt, wo mir diese Kinder so nah sind merke ich die Alltagszwangschrauben, die ihnen noch chronisch akut – uns Rosenblättern jedoch dumpf latent im Fleisch stecken. Da ist kein Raum für Entspannung, für Versinken im Eigenen – für das Eigene, das Selbstsein. Da ist permanenter Druck sich offen, aufnahmefähig, kopfisch, physisch funktional zu halten. 24/7 Interaktionsdruck, ohne selbst etwas davon zu haben, geschweige denn zu verstehen, wozu genau das wichtig sein soll. Und obendrauf kommt die Gewalt, wenn die Erschöpfung schlicht nicht mehr zu unterdrücken ist.

Unterwegs auf dem Rad machen wir stundenlang nur eine Sache. Fahren. Wir hören keine Musik, keine Hörbücher, keine Podcasts. Nur das Rauschen des Gegenwinds und die Fahrgeräusche des Rads.

Wir fahren keine 6 Stunden am Stück, weil wir sportliche Höchstleistungen erbringen wollen oder uns keine Pausen gönnen. Wir sind 6 Stunden. Wir fühlen uns 6 Stunden. Wir kommunizieren mit uns 6 Stunden. Wir interagieren, wie wir das wollen 6 Stunden.

Im Alltag unter Menschen, die weder merken, noch wirklich glauben können, wie immer überfordernd ihr Normal für uns ist, haben wir niemals so eine freie Ecke für uns. Schon die Möglichkeit, dass es jederzeit klingeln könnte, jemand anrufen könnte, jemand etwas von uns wollen oder brauchen könnte – und sei sie noch klein! – vernichtet uns bereits die Option zu Hause diese Ecke zu haben.

Als der Regen am Morgen nachlässt fahren wir gerade aus Hattstedt raus auf einen Mitteldeich vor der Nordsee. Vorbei an Schafen und über ihre Kacke, fahren wir knapp 3 Stunden nach Dagebüll Hafen. Kaufen eine Fahrkarte für die Fähre, steigen auf.

Einer der Fährfahrer kommentiert meinen Sonnenbrand im Nacken, macht Späße mit uns, bis wir das Rad gut verstaut haben.

Ich bin froh, daß ganze Prozedere bereits mit L. einmal durchgemacht zu haben, als wir vorletztes Jahr mit ihr nach Föhr gefahren waren. Jetzt macht es uns keine Angst mehr und wir bewegen uns sicher auf der Fähre.

Als es uns oben zu warm und unten zu laut wird, setzen wir uns in die Mitte und bestellen wie ein Millionär. Einen Kaffee mit Keks, für 3,30€.

Auf Amrum angekommen lassen wir uns den Weg zum Zeltplatz erklären, kommen an und sind überwältigt.

Erstmal von dem Preis, denn für 3 Tage und 4 Nächte bezahlen wir 58€, was mehr als ein Drittel unseres gesamten Budgets ist. Aber wir sind gesichert. Nur den Hut mit Nackenschutz und die geführte Wattwanderung müssen wir sein lassen.

Der Platz ist aber toll. Mitten in den Dünen gelegen, umgeben von Sträuchern und Gräsern, mit Blick auf den Leuchtturm. Das Möwengeschrei kommt noch obendrauf.

Nach einer Dusche und Handwäsche der, inzwischen krass stinkenden Shirts, sind wir bereit für einen Spaziergang. Der beginnt vom Platz aus auf einem Holzbohlenweg durch sumpfmooriges Gebiet mit Gänsen, Hasen und vielen unterschiedlichen Pflanzen. Dann geht es auf einer im feinen Sand liegenden Holzleiter über die Düne zum breiten fast menschenleeren Strand.

Wir verbringen Stunden hier. Fusseln im Sand, beobachten Wellen, lassen uns vom weichen Wind streicheln. Als wir eine Hängematte finden, beginnen wir nach einer Schaukelpause diesen Text.

„Leben, was schmeckst du heute gut“, denke ich und frage mich, ob J. vielleicht auch so etwas als „Soulfood“ bezeichnet.


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