Es hätte sein können. War aber nicht.
Ich stehe unter der Dusche, spüre die Krämpfe und schlage die Tür vor meiner Enttäuschung zu. In einer Stunde muss ich in der diabetologischen Praxis sein. Heute wird alles aus meinem Blut beguckt, was diabetisch sein könnte, eventuell vielleicht. Obwohl es sehr unwahrscheinlich ist.
Draußen ist es kühl und sonnig. Auf der Straße ist es noch ruhig. Ein Feldhase kreuzt meinen Weg in die Stadt. In mir drin Stasis. Vertraute Anstrengungsdissoziation. Ich bin nüchtern und menstruiere, das ist ein schwieriger Tagesstart.
Die Praxis ist super neu in einem super neuen Haus, überall hängt Werbung für doctolib. In meinen Patientenbogen schreibe ich, dass ich im IT-Bereich arbeite und streiche jede weiterleitende Datenverarbeitung durch. Die Sache erinnert mich daran, dass ich nach wie vor irgendwie lösen muss, dass hier draußen alle immer noch WhatsApp benutzen. Ich bin dadurch komplett von den Sportgruppen abgeschnitten. Kriege zwar alles durch eine Person weitervermittelt, aber wie doof ist das.
Die Blutabnehmerin kommentiert meinen schönen Namen. Ich freue mich.
Die Ärztin ist freundlich und erklärt mir alles. Ich bin nicht diabetisch, nicht mal prädiabetisch. Ich bin im Graubereich.
Sie lobt meine sportlichen Aktivitäten, fragt mich, ob ich eine Ernährungsberatung in Anspruch nehmen möchte, um weiter abzunehmen. Und zum ersten Mal kommt er aus mir raus. Mein innerer Monolog darüber, wie es ist, seit etwa 28 Jahren eine Essstörung zu haben, die sich seit etwa 10 Jahren im Graubereich bewegt. Keine flashy Magersucht, die jeden Zweifel über Gefährlichkeit oder allgemeine Problematik im Keim erstickt. Keine schambehaftete Bulimie, die jeden sozialen Bezug mit Lügen und Verstecknebel überzieht. Keine Adipositas, die so offensichtlich heimlich ist, dass jede_r eine Meinung dazu hat. Ich bin einfach essverkorkst. Kontrollkaputt. Diet culture-Fossil. Traumainduziert Flashbackdauerhungrig. Genussverkrüppelt. Sensorisch widersprüchlich sowohl über- als auch unempfindlich. Ich darf mir keinen festen, immer gültigen Essplan machen, weil ich da allein nicht wieder rauskomme. Auch der ausgewogenste Plan ist, über Monate unverändert eingehalten, unausgewogen. Es nutzt mir nichts, meine Kalorien zu tracken, es löst die falschen Gedankenketten aus, mich regelmäßig zu wiegen.
„Ich brauche keine Ernährungsberatung über Lebensmittel – ich brauche eigentlich Ernährungshilfe im Alltag für mich“, sage ich abschließend. „Ja, das klingt ganz so. Aber das …. da kenne ich leider niemanden.“
Wir verabschieden uns. In einem Jahr soll meine Hausärztin das Blutzucker-Thema erneut aufnehmen. Mein Zuckerstoffwechsel kann als Faktor meines unerfüllten Kinderwunsches weitgehend ausgeschlossen werden.
Im Auto gieße ich mir einen Kaffee ein, beiße in einen Apfel und befühle mein Gesicht beim Weinen.
Meine Gynäkologin hatte gesagt, dass Diabetolog_innen Menschen mit Kinderwunsch und Schwangere so gern hätten, weil diese immer so schön compliant seien. Ich hätte auch gern die Chance dazu. Aber entweder sehe ich diese Chancen nicht, wenn sie sich ergeben, oder sie ergeben sich einfach nicht.
Natürlich könnte ich das jetzt alles für eine Schwangerschaft anstoßen. Alles für mein Kind hinkriegen wollen. Ich lese ja auch immer wieder, dass das ein Anspruch an die Eltern ist, die ihr Kind gebären. Compliance fürs Kind. Sie sollen alles immer für ihr Kind wollen und damit ist im Grunde wirklich alles gemeint. In Georgia liegt gerade eine hirntote Frau, die für ihr Kind am Leben bleiben soll.[YouTube] So weit geht dieser Anspruch. Und obwohl mir das niemand konkret anträgt, ist er doch irgendwie da. Und mit ihm das Unverständnis, wenn sich ergibt, was bei mir gerade der Fall ist.
Ich will abnehmen. Ich will ein vernünftiges Verhältnis zum Essen und diversen Lebensmitteln entwickeln. Ich will mein Kind so lange es nur irgendwie geht, vor der Idee schützen, Essen hätte irgendeine andere Funktion oder Wirkung als die, es am Leben zu halten. Ich möchte nicht, dass mein Kind ein Elter hat, das sich beim Essen anstrengen muss oder erstmal durchrechnet, ob dieses oder jenes Gericht heute noch geht oder nicht. Andererseits sind 28 Jahre Vollmurks mit einer Ernährungsberatung, einer App zum Abhaken und dem Abspulen von „richtigem Verhalten“ allein auch nicht zu revidieren. Egal, was ich in der nächsten Zeit wie schaffe – ich werde das Elter sein, das entweder gerade lernt oder gelernt hat und deshalb nicht frei von Gedankenlosigkeit dazu ist. Dem Anspruch, meinem Kind eine Instanz zu sein, die keinen möglicherweise negativen Einfluss ausübt, kann ich an der Stelle wahrscheinlich nicht genügen. Und das macht mich traurig. Nicht, weil ich gerne ausschließlich gute Einflüsse ausüben will, sondern weil ich genügen will. Und das – mal wieder, wie immer – nicht schaffe.
Mir ist klar, dass das logisch ist. Die Ansprüche an gebärende Eltern sind absurd, maßlos überzogen und bauen komplett auf tradiertem misogynen Hass auf, ist schon klar alles. Aber ich habe ja auch Ansprüche an mich. Meine Mutter war auch schon esszerstört. Ich will nicht nur den Gewaltkreisel durchbrechen. Ich will das ganz hinkriegen. Ich will, dass sich dieses kleine zarte Familienbäumchen, das in Wahrheit ein Steckling, nämlich mein Mann und ich allein auf weiter Flur ist, zu dem entwickelt, was Leben und Sein in sich zentriert. Nicht Überleben und Werden.
Als das Weinen fertig ist, fahre ich nach Hause.
Nächsten Monat stellen wir uns wieder in der Kinderwunschklinik vor.
Am Nachmittag schicke ich eine E-Mail an eine Beratungsstelle mit Sprechstunde für Essstörungen raus.