die „Nickis“ – ein Lichtstrahl

farbiges Portrait von Nickis, die freundlich in die Kamera lächeln
„Nickis“

Die „Nickis“ sind tot.
Wir trauern um einen kraftvollen Menschen und eine Stimme, die die Belange von Betroffenen Ritueller organisierter Gewalt in Deutschland so klar und weit verbreitet hat wie noch niemand zuvor.

„Nickis“ traten 2001 im Film „Höllenleben“ erstmals in die breite Öffentlichkeit.
Sie waren auf Spurensuche. Suchten Beweise für die Gewalterfahrungen, die ihre Kindheit prägten und die Entwicklung ihrer dissoziativen Identitätsstruktur (DIS) zur Folge hatten.
Der Mut, der dafür nötig war, ist kaum zu bemessen. „Rituelle Gewalt“ war im Deutschland der frühen 2000er Jahre praktisch kein Thema, schon der Themenkreis „sexualisierte Gewalt“ hatte in der Öffentlichkeit nur wenige schwer erkämpfte Räume.
Und „multiple Persönlichkeiten“, so nannte man damals Menschen, die sich als Viele erleben, galten gerade einmal als in ihrer Existenz umstritten – es gab einfach viel zu wenige Psychotherapeut* innen und Mediziner*innen in Deutschland, die sich fundiert darüber hätten streiten können.

1998 haben „Nickis“ eine Selbsthilfezeitung für „Multis“ herausgebracht. „Lichtstrahlen“ enthielt Briefe, Fotos und Bilder, aber vor allem die Botschaft: „Du bist nicht allein“, die viele Üb.erlebende dringend brauchen.

Für mich ist es so, dass es eine Lebensaufgabe ist, anderen Multiplen den Weg leichter zu machen als unseren Weg. Unser Weg war so unendlich schwer, und ich möchte anderen Systemen den Weg ein bisschen leichter machen.“

„Nickis“ wollten vermitteln und erklären – also haben sie es gemacht. Klar, konkret, ohne zu beschönigen. 2005 ist ihr Aufklärungsfilm „Ein Körper mit System“ erschienen und wird bis heute in Fortbildung und Beratung von Menschen mit DIS genutzt. Über 1000 Exemplare liegen heute in Bibliotheken, Beratungsstellen und Therapiepraxen, um das „Vielesein“ begreifbarer zu machen.

In den Folgejahren haben sie viele verschiedene Projekte angestoßen und etabliert, um anderen Menschen, die sich als Viele erleben, den Austausch und Kontakt miteinander zu ermöglichen. Ihr „Lichtstrahlenforum“ ist bis heute eine der ältesten Anlaufstellen zu Vernetzung und Selbsthilfe für Üb.Erlebende organisierter Ritueller Gewalt im deutschsprachigen Internet.
2009 gründeten sie zusammen mit einigen Vertrauten den Verein „Lichtstrahlen Oldenburg e. V.“ und organisierten mehrere Tagungen für private wie professionelle Unterstützer- und Helfer*innen. Außerdem hielten sie Vorträge und leiteten Workshops.

Nach so einem Vortrag traf ich die „Nickis“ 2014. „Wir sind viele. Opfer ritualisierter Gewalt und organisierter Pädokriminalität“ hieß die Veranstaltung. Ich war überrascht von den Fragen der Besucher*innen an „Nickis“ und beeindruckt von deren ruhiger Aufmerksamkeit und Offenheit. Damals hatte ich meinen Plan, in meinem Blog übers „Vielesein“ aufzuklären, gerade begraben, weil ich merkte, dass ich nicht so eine freundliche und nahbare Stimmung herstellen kann, wie es den „Nickis“ zum Beispiel immer wieder gelungen ist.
Wir haben an dem Tag kurz miteinander gesprochen.
Beim Händewaschen im Waschraum.
„Mutig!“ – „Joa, naja – sonst ändert sich ja nix, nä?“ – „Jau.“

Unsere Wege sollten sich in den kommenden Jahren immer wieder kreuzen, bis wir 2018 bei der Lichtstrahlentagung „Nach der Gewalt – Wir nehmen das Leben in die eigene Hand“ sogar zusammen auf der Bühne saßen und Fragen beantworteten.
Die Organisation war umfangreich und kräftezehrend. „Nickis“ wollten keine Tagungen mehr machen und fanden, es sei eh Zeit, die Aufklärung der „jüngeren Generation“ zu überlassen. Ende 50 waren sie da. Blogs, Webseiten und andere soziale Medien hatten Selbsthilfezeitungen und Vorträge in Seminarräumen abgelöst, um Aufklärungsarbeit aus der Innensicht zu machen.
Was früher „multiple Persönlichkeitsstörung“ (MPS) hieß, wird nun in mehreren Diagnosen differenziert und therapiert. Was Anfang 2000 kaum jemand als reales Gewaltszenario eingeordnet hat, wird heute in einer Reihe mit anderen schweren Gewaltverbrechen erwähnt und zunehmend anerkannt.

Wäre das auch passiert, wenn „Nickis“ ihr persönliches Erleben und ihre schrecklichen Erfahrungen sowohl in der Sekte, die sie gequält hat, als auch im Gesundheitssystem nicht öffentlich gemacht hätte? Wenn andere „Viele“, „Multis“, „Überlebende“ sich nicht von ihnen ermutigen und inspirieren lassen könnten, ihre Gewaltbetroffenheit nicht weiter für sich zu behalten, sondern für sich einzutreten? Wir werden es glücklicherweise nie erfahren, denn sie waren da und haben enorm viel geleistet, das von ihnen bleibt.

Zuletzt waren „Nickis“ 2020 in einer 2-teiligen Dokumentation von ze.tt, dem Videoportal von ZEIT-Online, zu sehen. (Teil 1, Teil 2). Auch in diesen Beiträgen ist ihre Entwicklung und die Entwicklung der Auseinandersetzung mit der Thematik sichtbar. Es sind nicht mehr nur die „Nickis“, die von organisierter Ritueller Gewalt berichten. Längst gibt es wissenschaftliche Auseinandersetzung und politische Bewegungen, die sie als real anerkennen und sich um die Versorgung der Opfer bemühen.

„Nickis“ Einsatz und unermüdliche Arbeit für Aufklärung und Selbsthilfe haben unzählige Leben berührt, verbessert und gerettet.
Ein unermesslich großer Verdienst.
Ein Lichtstrahl.

Was ich anderen sagen möchte, ist: Kämpft für Euch!
Ihr werdet es schaffen.
Es ist ein langer Weg, aber es kann funktionieren.“


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9 thoughts on “die „Nickis“ – ein Lichtstrahl

  1. Danke für eure Worte,
    für die Würdigung der so mutigen, Licht- und Kraftgebenden Nickis. Welch ein Leben ist den Nickis trotz ihrer grausamen Gewalterfahrungen gelungen. Sie bleiben Vorbild, Ansporn, Inspiration. Danke Nickis für euer Leben, für all eure Lichtstrahlen,
    Danke Hannah.

  2. Wir sind so froh, dass wir hier auf eurem Blog die Nachricht gelesen haben, gleich verpackt in so gute, klare Worte. Wir haben Nickis irgendwann in 2003 oder auch 2004 bei einer Kinovorstellung mit anschließendem Publikumsgespräch kennengelernt, und sie haben danach auch noch mit uns allein ein bisschen gesprochen, und ihre zugewandte, warmherzige, ermutigende Art hat uns damals, zu Beginn des Ausstiegs, unfassbar gut getan und unterstützt. Wir sind richtig traurig gerade…Danke für eure Worte! ❤

  3. Wir haben die Nickis, glaube ich, nicht bewusst mitbekommen. Wir haben uns 2012 bzw. 2021 zum ersten Mal mit anderen Vielen vernetzt. Da hatten sie schon so viel beeinflusst. Und wir wussten nichts von dem Mut und der Kraft, die das möglich gemacht haben, was wir vorgefunden haben. Danke, dass du deine Erinnerungen an die Nickis teilst.

  4. Wir wissen gar nicht, was wir sagen sollen. Danke für euren einfach berührenden Text.
    Die Nachricht berührt uns mehr, als wir gedacht hätten, aber das ist auch in Ordnung so.
    Wir konnten von Nickis bzw. den Dingen, den Projekten, einfach allem möglichen was sie gemacht haben, immer wieder viel hilfreiches Input mitnehmen.
    Es ist einfach traurig diese Nachricht jetzt zu lesen.

    Danke für eure Worte 💝

  5. …..einfach nur traurig und fassungslos über die Nachricht. Die Spur der Lichtstrahlen geht ins Herz……… 🕯

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