Elfter Juli 2004
Zwei, drei Monate vorher hatten wir den Stadtausgang der KJP-Station dafür genutzt, ein Internetcafé zu finden und unser letztes Geld in eine E-Mail an jemanden zu investieren, von der_m wir nicht einmal wussten, ob sie_r sich noch an uns erinnern konnte. Und wenn ja, wie.
Zu der Zeit waren wir praktisch obdachlos, denn niemand wollte uns bei sich wohnen lassen. Ausnutzen, verletzen, ausbeuten, ja – wohnen, leben, betreut, unterstützt werden, nein. Wir waren in eine KJP geparkt worden, weil wir als zu gefährlich und allgemein einfach zu viel wahrgenommen wurden. Niemand außer Täter_innen und mit Täter_innen assoziierte Leute hat es interessiert, was mit uns werden würde, wenn wir volljährig sein würden. Wir würden definitiv aus dem Kinder- und Jugend-Klapsbereich rausfallen, ja, ganz sicher – aber wohin dann mit der Fracht, dem Ballast, dem heißen Eisen?
In der Klinik gab es einen übergriffigen Pfleger und eine Oberärztin, die eigentlich überhaupt nicht einsah, weshalb wir überhaupt auf ihrer Station und nicht auf einer in der Stadt der Herkunftsfamilie waren.
Wir hatten kein Geld, kannten uns weder in der Stadt noch dem Bundesland aus und wussten, dass praktisch alles, was wir anstoßen konnten, mehr oder weniger Griffe in den Nebel waren. Wir hätten weglaufen können, wir hätten sterben können, jemand aus dem Täter_innenkreis hätte uns mitnehmen können, es hätte nichts verändert und niemanden wirklich – like emotional for real as in „Oh scheiße nein!!!“ – angefasst.
Wir konnten nur die Mail wegschicken und hoffen. Darauf, dass wir irgendwann in den folgenden Wochen – Monaten – wieder irgendwo ins Internet kämen und eine Antwort mit Substanz erhalten hätten.
In dem Sommer waren wir dann für eine Woche zur Probe in einer betreuten therapeutischen Wohngruppe. In der ein PC mit Internetanschluss stand. Wir hatten eine Antwort bekommen und waren so froh. Die Person hatte uns gehört. Sie hat uns geglaubt. Sie hat uns eine Klinik empfohlen. Schrieb, wir könnten uns auf sie beziehen, da könnten wir uns melden, es würde Hoffnung geben. „Viva la Internet“ notierte ich damals ins Tagebuch. „Viva la Internet“ und „Ich ruf da an, sobald ich Geld fürs Telefon hab.“
Wir entschieden uns gegen diese therapeutische Wohngruppe, die noch nie eine_n Jugendliche_n mit DIS betreut hatte, es sich aber vorstellen konnte (wie die Wohngruppen vorher es sich immer vorstellen konnten und noch gar keine Erfahrung hatten) – und stellten fest, dass uns die Empfehlung und der Bezug überhaupt nichts bringen würde. Wir waren noch nicht 18 und hatten keinen Wohnsitz.
Dennoch habe ich über viele Jahre an dem Bindungsangebot der Person festgehalten. Denn sonst hat es niemand gemacht. Sie_r war immer ein Backup, immer irgendwie im Hintergrund, immer eine Quelle für Gegenbeispiele meiner, unserer Lebensrealität im Ausstieg, aber auch in der Zeit danach.
Und heute, tja … viva la Internet …
Heute werfe ich diese Seite meines Tagebuches in den Müll.
Was einmal gut war, kann sich durch die Perspektive, die nicht aus der totalen Not kommt, ändern.
M. und C., die Innens, die sich damals praktisch allein gegen alle anderen von uns gestemmt haben, um unser Leben nicht nur zu erhalten, sondern auch zu verändern, sind heute „meine M.-Seite“ und „meine C.-Momente“. Die Person, die mir damals die einzige Verbindung zum Glauben an ein Leben ohne die Gewalt war, ist heute eine Verbindung zu Überzeugungen und Werten, die ich mit diesem meinem Leben nicht vereinen möchte.
Es tut gut, diese Verbindung loszulassen.
Heute ist es kein Verlust mehr.
Leider.
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