halb und halb

Meine Mutter hat ein Foto ihres Vaters gerahmt und aufgestellt. Ich glaube, im Wohnzimmer, bin aber nicht sicher. Es ist einfach zu lange her. Das Bild habe ich trotzdem in Erinnerung. So, wie man Bilder eben in Erinnerung hat. Man denkt, man könne es in Gedanken detailgetreu wiedergeben, aber je schärfer man das Bild stellen will, desto deutlicher treten die Unschärfen hervor. Am Ende merkt man, dass es vielleicht doch eher die eigene Rezeption als das tatsächliche Bild ist, die man erinnert.
Meine Rezeption vom Foto meines Großvaters war immer schon: Der lächelt wie ich.
Wenn man die eine Gesichtshälfte bedeckt, lächelt die andere. Bedeckt man die andere Gesichtshälfte, schaut er neutral, fast traurig.
Dieses Lächeln hat auch mein Lieblingsgeschwist.
Ich besitze eins dieser fürchterlichen Schulfotos von ihm. Die kleine Brille etwas schräg, das weiche Kindergesicht mit einem Mund, dessen rechter Winkel sachte nach oben geneigt ist, während der linke sanft nach unten zeigt. Auf einem anderen Foto, eins, das ich gemacht habe, als wir einen ausgelassenen Quatschmoment hatten, erscheint neben der traurigen Gesichtshälfte ein Grübchen über dem deutlichen Lächeln.

Wir drei sehen gleichzeitig freundlich und ernst aus. Oder fröhlich und traurig. Es ist der Kontext, der unseren Gegenübern aufzeigt, welcher ihrer Eindrücke von unserem Gesicht der richtige ist. Nicht allein unsere Mimik. Im Fall meines Geschwistes und mir nicht mal unbedingt das, was wir sagen oder wie unsere Körpersprache ist. Denn wie ich schon als kleines Kind, stand auch mein Geschwist oft reglos, mit offenem Mund und Augen, im Geschehen herum. Angewiesen auf (Selbstschutz)Reflexe und ein soziales Umfeld, das uns einfach mit (und an) sich nimmt. Auf mehreren Fotos aus unserem Kinderalltag sieht man das. Entweder standen wir in full blown Dissoziation in der Gegend oder waren voll auf die Beobachtung des Geschehens konzentriert. Wir werden es wahrscheinlich nicht mehr erfahren und vielleicht ist es heute auch eher für die persönliche Einordnung der eigenen Kindheitserinnerungen relevant.
Aber ich fühle mich hauptsächlich dadurch verbunden. Ich erinnere mich an die beiden, wann immer ich ein Foto von mir sehe, auf dem ich jemanden anlächle.

Seit einigen Jahren überlege ich daran herum, mein Geschwist zu suchen.
Denke darüber nach, ob ich, so ganz ohne Geburts- und Sterbedatum, das Grab meines Opas finden würde. Ich glaube, dass mein Leben vollständiger wäre, würden wir nicht nur unser halbes Lächeln teilen. Vielleicht wäre aber auch ein Schmerz darin vollständiger. Das kann man nicht wissen.


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2 thoughts on “halb und halb

  1. Das klingt sehr essentiell, diese Sehnsucht nacheinander. Vielleicht könnt ihr euch finden? Vielleicht hat dein Geschwist auch einen neuen Namen? Wie auch immer … ich wünsch euch, dass ihr eure Verbundenheit nie verliert.

    1. Ich glaub, dass ichs mal gefunden habe. Da war der Name noch gleich. Aber ich habs nie geprüft, da hat mich der Mut verlassen, und am Ende will ich es auch nicht in einen Loyalitätskonflikt bringen. Obwohl ich es für unwahrscheinlich halte, dass es glücklich in der Familie war/ist, kann es ja doch sein.
      Der Plan ist aktuell, zu warten bis gerichtliche Post übers Ableben eines oder beider Elternteile kommt. Dann ist vielleicht noch genug Zeit und Raum füreinander.

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