die Zeitreise ~ Teil 6 ~

“Ich weiß.”, antwortete Kurt mit süffisant gespitzten Lippen. “Man wird ja nun nich aus Gründen eines makellosen Auftrittes allein zum Zeitreiseleiter für zweifelnde Blogger_innen.”. Das kleine Wesen reichte mir ein Taschentuch und wand sich aus seiner Jacke.
Es schüttelte den braun gemusterten Stoff und die aus ihm herausfallenden violetten Staubpartikel bildeten ein Zelt mit transparentem Dach um uns herum.

Ich schaute ihn an und überlegte, was ich jetzt machen sollte. Mein rechtes Auge schielte nach der Hängematte und mein linkes schlich tastend über das Essen vor meinen Füßen.
Kurt warf seine Jacke auf den Kissenberg und sich selbst mitten rein. Er grunzte zufrieden und griff nach einem Stück Käse mit großen runden Löchern. “Na – nu stehen Sie mal nicht so unbequem an der Seite. Setzen und bedienen Sie sich.”, forderte er mit vollem Mund.
Ich griff freudig nach einer Pummelo und setzte mich in die Hängematte. Während das Schaukeln mich schwummerglücklich machte, pulte ich Kämmerchen um Kämmerchen der süß-sauren Frucht frei und steckte sie mir in den Mund.
“Das ist echt toll Kurt.”, sagte ich dem kleinen Zeitreiseleiter und schaute in den Nachthimmel hoch. “Danke.”.

“Gerne.”. Er lächelte und fragte dann: “Und? Haben Sie nun damals schon gewusst, was Bloggen ist?”.
“Hm.”, antwortete ich und nuckelte nachdenklich an einem Fruchtstück in meiner Hand. “Ehrlich gesagt, weiß ich bis heute nicht genau, wann ein Blog ein Blog ist, wissen Sie?”. Das kleine Wesen, das nun zu Beck’s und Lachsschinken übergegangen war, schüttelte den Kopf.

“Naja, wir haben erst über Twitter mehr andere Blogs und Blogkollektive entdeckt. Da waren TakeoverBeta, die Mädchenmannschaft, Stop! Talking von Accalmie, Shehadistan von Nadia, das alsMenschverkleidet-Blog, das aufZehenspitzen Blog, die Identitätskritik von Steinmädchen … und so viele andere mehr, die bei Twitter quasi mikromikrobloggen und uns sensibilisiert und nach und nach auch politisiert haben. Die uns bis heute anhalten uns und unsere Ideen zu reflektieren und bestärken und sehr viel mehr von dem, was von außen als individuell an uns herangetragen wird, als auch politisch ernst zunehmen.”, begann ich.
“Wissen Sie, die Jahre seit dem Umzug in diese Stadt vergingen im Großen und Ganzen damit, dass wir eine Person waren, die sich selbst um ihren Schutz vor weiterer organisierter Gewalt kümmern muss, weil nur sie damit ein Problem und Leidensdruck daran hat. Lebenswegplanung, Identität as a thing hinterfragen und festigen, griffige verlässliche Fixpunkte im Außen zu suchen und zu finden und zu bewahren, waren unsere Aufgabe – nicht die der Gesellschaft, die überhaupt erst nötig gemacht hat, dass wir diese Mammutaufgabe unter erschwerten Bedingungen zu stemmen hatten. Und wir dachten, das wäre okay so. Schicksal, Bestimmung… whatever.
Wir hatten überhaupt nicht den Blick und keine größeren Gedanken für die Leute, die uns dabei zugesehen haben und anerkennend den Hut hoben, als hätten sie nicht tausend mehr Möglichkeiten uns und unserem Kampf zu begegnen. Das Blog sollte einfach nur zeigen, dass es uns gibt und wie wir uns entwickeln. Und letztlich”, ich öffnete mir eine Flasche Holunder-Fassbrause und nahm einen Schluck, “kann das Blog von Vielen auch nicht mehr bewirken. Jedenfalls nehmen wir das so wahr.”.

Ich schob die kühle Flasche in die Ritze zwischen Hängemattenstoff und Oberschenkel und angelte nach einem Teller mit Käsewürfeln und Weintrauben drauf.
”Aber, wenn ich dann mitbekomme, was als Blog gilt, wenn es um die Würdigung und auch finanzielle Anerkennung geht, dann merke ich, dass es Unterschiede gibt. Da geht es um Masse und Massenwirksamkeit und oft habe ich das Gefühl, ausgezeichnet wird, wer sich und seine Arbeit am klaglosesten von dieser Masse vereinnahmen lässt.
Wir dagegen haben bis heute immer wieder Schmerzen daran, wenn wir merken, wie sehr die Rezeption unserer Texte von unserer Intention abweicht. Es ist weniger geworden in den letzten Jahren, aber nachwievor da.”.
Ich stieß mich erneut von der Wand ab und legte mich in das sanfte Schaukeln.

“Aber das kann man auch nicht erwarten, oder?”, fragte Kurt aus seinem Kissenberg heraus, “Sie schreiben ja immerhin für eine Öffentlichkeit und nicht für ihren Freundeskreis.”.
“Ich finde schon, was wir Erwartungen an “die Öffentlichkeit” stellen können.”, antwortete ich mit seltsam pochendem Puls im Hals. “Was ist das denn für eine Öffentlichkeit, die unser Blog liest? Das sind Menschen, die Interesse an unseren Gedanken haben. An dem, was wir so zu erklären versuchen und dem, was wir analysieren. Manche dieser Menschen haben auch Interesse an uns als Person. Verstehen sie – das ist eine Öffentlichkeit, die sich für Persönliches interessiert. Persönliches, das wir inzwischen auch als Politikum auffassen und wahrgenommen wissen wollen. Für uns ist das wichtig, weil für uns klar ist, dass wir vor allem deshalb so oft alleine und existenziell bedroht waren (und bis heute immer wieder auch sind), weil genau das nicht gesehen und ernstgenommen wird.”.
Ich wollte gerade schon wieder einen Satz mit “Verstehen Sie –” anfangen, aber ich sah, dass Kurt aufmerksam und konzentriert zuhörte.

“Ich glaube, für uns gibt es einen Unterschied zwischen Blogs, die mit Auszeichnungen überhäuft werden, weil sie einer ignoranten und sozial dissoziativ privilegierten Masse erzählt, dass okay ist, was sie machen, weil man sonst ja keinen Spaß mehr im Leben hat und überhaupt ist man ja sowieso ganz dicke miteinander auch analog beim x-sten großen Internet- und Bloggerevent in Berlin, zu dem man sich entweder einkauft oder über den good will privilegierter „Freunde“ und „Bekannter“ reinschleicht und das als “so ist das halt in der Medienbranche” bezeichnet – und den Blogs, in die Menschen hineinschreiben, weil sie für solche Massen bzw. für Gesellschaftsschichten in denen solche exkludierenden Klüngeleien als normal gelten, schlicht nicht existieren oder nur als Ausgrabungsstätte für den nächsten edgy Style oder das nächste progressive Statement auf einem neongelben “Ich bin dagegen”-Schild auf Ökopappe mit Glitzerschrift vom Fuße des Himalaya.” taugen.”, fuhr ich fort und versicherte mich heimlich über Kurts Aufmerksamkeit.

“Es macht mich neidisch und wütend gleichzeitig, wenn ein_e Autor_in für wie auch immer gearteten Lifestyle mit >1000 Facebooklikes für ein 08/15 Statement gegen Gewalt an Kindern, einen Beratungsjob bei einer NGO bekommt oder sonstwie beschenkt wird mit einer Chance wirklich etwas mehr zu bewegen, die er_sie dann aber gar nicht nutzt, um grundlegende Prozesse anzustoßen, sondern schlicht sich selbst weiter zu vermarkten. Nur halt mit einem “Ich bin dagegen” –Button an der Brust.
Ich würde so etwas auch gerne geschenkt bekommen – deshalb bin ich neidisch. Wütend aber bin ich, weil man sich nicht erlauben kann, zu so einer Person hinzugehen und ihr zu sagen, dass sie da gerade richtig miese Scheiße macht, die andere Menschen außer ihr letzten Endes aushalten und mittragen müssen. Weil: wenn man so etwas macht, disqualifiziert man sich direkt für solche Chancen und das wird dann “Politik” genannt. Obwohl es dumme Kackscheiße ist.”.
Ich schüttelte angewidert den Kopf und biss mit voller Wucht in ein faustgroßes Stück Käse.

Die cremige Masse in der rechten Wange haltend, sagte ich: “Wir haben für uns inzwischen verstanden, dass wir nichts dagegen tun können, wenn uns jemand unbedingt sein Mitgefühl und seine Erschütterung über unsere Lebensrealität mitteilen muss. Wir können weder etwas dagegen tun, dass sie uns so missverstehen, noch, dass sie sich um unseren Trost und damit auch eine Art Absolution bemühen. Aber wir haben auch verstanden, dass wir diejenigen sind, die Menschen über ihr geschriebenes Wort etwas zeigen worüber sie tatsächlich auch etwas empfinden können. Das war eine große Erkenntnis für uns, weil es etwas ist, was von uns nicht mitbedacht wurde als wir anfingen. Wir dachten an Dinge wie “Umdenken” und “Wissen aus Innenansichten vermitteln” – aber daran, dass bzw. präziser wie genau es Menschen emotional berühren könnte, wenn wir so bittere Standards in unserem Leben aufschreiben, nicht.”.

Unser Zeitreiseleiter legte den Kopf schief. “Ernsthaft jetzt?”. Seine Stimme triefte vor Ungläubigkeit. “Japp, ernsthaft jetzt.”. Ich lächelte ihn an und nahm einen weiteren Schluck meiner Brause.
“Der Dezember 2012 war ein Monat voller Missverständnisse und Kommunikationsprobleme. Unsere Therapie war unfassbar anstrengend und ängstigend, schließlich näherten wir uns gerade aneinander an, während wir im Innen noch immer ungeordnet und instabil waren und an keiner Stelle in unserem Alltag klar verständlich erschienen. Wir hatten Stress in einem Forum, in dem wir auf Verständnis und Ermutigung gehofft hatten, doch letztlich nur in den Übertragungen anderer Menschen landeten und unsere Gemögte dachte noch immer, es wäre nötig, dass wir uns “endlich mit unseren Traumatisierungen konfrontierten”. Und die ganze Zeit haben wir erklärt und erklärt und erklärt und geredet und analysiert und erklärt und … “, ich leierte die letzten Worte herunter, damit Kurt merkte, wie sinnlos gleichtönig unser Bemühen damals war.
“Es hat bis zum Inklusionscamp im Oktober 2015 gedauert bis wir durch eine Erklärung der Phrase “es hat mich berührt” verstanden haben, worauf die Menschen damals eigentlich angesprungen sein werden. Und, dass genau unser Nichteinbeziehen von Gefühlen anderer Menschen unsere Konflikte immer wieder enorm anheizt, ohne, dass wir selbst das merken. Genauso wie das Unverständnis über Reaktionen von Menschen auf Artikel von uns.”.
Kurt hatte tellergroße Augen in seinem grünen Gesicht. “Whuat?!”

Ich hob die Arme und zuckte mit den Schultern. “Ja, woher sollen wir denn wissen, was andere Menschen fühlen, wenn sie uns nur schreiben, was für ne arrogante Person wir sind, die sich wohl für was Besseres hält? Oder wenn Leute uns nur schreiben, wie mutig sie finden, was wir aufschreiben? Kurt lachte auf: “Hehe – keine Ich-Botschaften zu verwenden ist im Kontakt mit Ihnen also ungünstig, hm?”. “Japp – sieht ganz so aus.”, antwortete ich und wir kicherten zusammen in unsere Getränke hinein.

”Wissen Sie, für viele Menschen ist das Bloggen so etwas wie ein Sprechen mit anderen Leuten. Ein Gespräch. Manche Menschen nutzen ihre Blogs auch für persönlichpolitische Scharmützel, um anderen Menschen ihre Meinung über sie und ihre Arbeit oder Blogtexte zu sagen. Wir haben viel zu selten die Kraft dafür das genau so auch zu machen. Wenn wir eine abweichende Meinung haben oder andere Gedanken, dann formulieren wir sie und stellen sie ins Blog. Die interessierte Öffentlichkeit wird es dann lesen, oder eben auch nicht. Aber wir schreiben nicht, damit andere lesen. Wir schreiben um gelesen, und darüber in unserer Lebensrealität, unseren Gedanken und Ideen gesehen werden zu können.
Das ist ein wichtiger Teil unseres Bloggens. Oft geht es aber auch darum sich nicht vorwerfen lassen zu müssen “Wieso hast du denn nichts gesagt?”. Wie es im Februar 2013 dann teilweise durchs Internet ging.”.

Ich sah zu Kurt hinüber und bemerkte, wie er langsam in den Schlaf dämmerte. Leise kletterte ich aus der Hängematte, stellte meinen Teller auf dem Tisch ab und deckte ihn zu. Dann nahm ich mir ein großes dickes Federkissen und ein kleines eher lülleriges Kissen und machte es mir schlafgemütlich in der Hängematte.

Es wurde warm, schaukelte sachte und über uns zogen feine Wolken über den fast schwarzen Himmel.


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