von Vermeidungsblasen und Tumoren

Nach Jahren habe ich mal wieder ein psychotherapeutisches (Fach)Buch zum Thema Trauma und DIS in der Hand und könnte es eigentlich schon wieder an die Wand schmeißen, in die Seiten hineinspringen, es auffressen, vollkotzen, zerpflücken… in die Hand nehmen und jedem Außenmenschen um die Ohren hauen, der mir über den Weg läuft.
An meine Brust drücken… hoffend, dass mein Innen etwas spürt, sieht, dass es gesehen wurde. Schau da ist Hoffnung, da ist Heilung.
Es verflüssigen und mir multipelschläuchig intravenös in den Körper einbringen, auf dass es diesen quälend berstenden Wissensdurst genauso stillt, wie das Gefühl der Einsamkeit.

Es ist nur ein Kapitel.
Und das “in der Hand halten” von etwas, das von uns drin steht.
Doch es reicht.

Es reicht mich zu erinnern wie es war, als die Innens noch maligne Microhirntumore waren.
Ich habe nicht unter ihnen gelitten.
Ich hatte keinen Leidensdruck vom Viele-Sein. Das habe ich bis heute nicht.
Ich habe unter einer ständig schwelenden Todesangst gelitten. Genau wie heute- auch wenn der Grund inzwischen ein anderer ist.
Jede Amnesie, jeder Kopfschmerz, jede Seltsamkeit an mir bedeutete für mich: “Der Tumor ist gewachsen- gleich bist du tot.”. Alles was ich mir nicht erklären konnte, wurde durch den Tumor erklärt. Meine Angst bekam eine Berechtigung.
Ich habe eine ganz liebe Vermeidungsblase aufgepustet.
An einem Tumor kann jeder erkranken. Damit bin ich nicht allein.
Vor dem Tod haben viele Menschen Angst. Es ist akzeptabel Angst vor tödlicher Krankheit zu haben.
Ein Tumor wächst im Körper. Niemand kann einem anderen Menschen einen Tumor antun.

Ein Tumor hat keinen Finger, mit dem er auf jemanden zeigen kann.

Es reicht, mir zu zeigen, wie lieb ich bin.
Immernoch.
Lieb in meiner kleine Vermeidungsblase.
“Nein das war nur ein … Tumor…
Es war nicht… nein nein es war nur ein… mehrere Tumore…”

Zu wissen, dass es Innens sind, die meine Stücke vom Zeitkuchen wegknabbern, runterschlingen, auffressen, in sich hineingestopft bekamen und nun wieder herauskotzen müssen, war lange gleichsam eine Art Tumor.
Eine sprachverführende Vermeidungsblase für mich.

Multiple Persönlichkeit.
Mehrfache Persönlichkeit.
Mehrfaches Sein.

“Ja prima. Ich hab den Tumor- die Innens sind einfach nur nicht davon betroffen.
Die sind ertrinkend, erstickend, aufgerissen, benutzt, kaputt. Sie baumeln noch immer nackt von einer Decke, posieren für andere, stinken wie ein verdrecktes Tier, sind ekelerregend, bemitleidenswerter Abschaum, halten auf Wunsch die Körperlichkeit eines anderen, bieten sich an. Sie sind so niedrig, dass man sie gar nicht mehr erniedrigen kann.

Ich bin eine andere Persönlichkeit. Mit mir hat das nichts zu tun.
Mein Sein ist ganz anders.
Ich sterbe nur an Todesangst.
Ich werde in einem Krankenhausbett sterben, ganz lieb. Ganz still.
Die Innens werden in ihrem Dreck verrotten, sollen sie doch schreien, an- klagen.
Ich bin lieb.
Ich bin ein anderer Mensch als sie.
Sie sind meine Krankheit. Sie sind mein Seelentumor.
“Einmal rein- und abschneiden bitte!”

Die Wissenschaft klärte mich auf. Eröffnete mich.
Sie griff zum Skalpell und entfernte eine Schicht meiner Vermeidungsblase.
Ich kann das Innen nun, freioperiert von verwischter Sprache, als dissoziierte Aspekte meiner Identität- meiner Gesamtpersönlichkeit an mich heranrationalisieren.

Ich habe meiner Vermeidungsblase ein Element hinzufügen können, dass eine gewisse Diffusion ermöglicht, eine grundlegende Trennung allerdings aufrecht erhält. So bekam ich Gelegenheit zu 423597_original_R_K_B_by_Sigrid Roßmann_pixelio.desehen, dass auch andere Innens lieber mal “500gr biographische Amnesie kaufen wollen”, statt das Grauen anzunehmen. Ihnen fehlen zwar nicht die ersten 16 Jahre des Körperlebens wie mir, aber auch sie treiben in dieser Seelenlösung aus Angst, Schmerz und Verletzung herum, einzig durch ihre Vermeidungsblase geschützt.
Vielleicht nicht so lieb wie ich.
Wenn ich meinen Gemögten (und dem Blog hier) trauen kann, dann sind sie wohl eher bockig, kernig, charming, bedürftig, kalt, mutig, frech, aufmüpfig, emanzipiert, liebevoll, fürsorglich.
Gleich und doch verschieden.
Getrennt aber doch verbunden.

Ich lese Sachbücher wie dieses nicht so gern.
In der Regel erhöhen sie den Druck. Oft sorgen sie dafür, dass ein Innen an eine durchsichtige Seite meiner Vermeidungsblase gepresst wird und ich es erschreckt anstarre, wie einen Vogel der gegen das Küchenfenster geflogen ist.

Meist fällt mir dann auch gleich noch das Buch aus der Hand, kippe ich fest verklebt in meiner Angst weg und ergieße mein Denken in die unendliche Weite der Vermeidung. Vielleicht der Selbsttäuschung, der Illusion und der Traumtänzerei.

“Es war doch nichts.
Ich dysfunktioniere auf zellulärer Ebene, das ist es!
Das Schlimme… das Böse… das … nein das ist nicht… nein das ist nur ein Tumor.

Ich war doch immer lieb. Warum sollte mir jemand so etwas angetan haben?”

Erst wenn ich das Buch beiseite lege, das Leben kennenlerne; sehe, dass Liebsein kein Garant für Liebgehabt werden ist, schaffe ich es, meine Vermeidungsblase etwas zu öffnen und das Innen davor etwas näher zu betrachten. Zu sehen, wie sehr ich es mit meinem Denken verletze.

Wie sehr ich mich selbst zum Tumor mache.


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