von Bücherwissen und Seelenhingabe

Ich glaube, ich war 11 oder 12 und mein Bibliotheksausweis erschien mir wie alles, was ich je gebraucht hatte. Meine Lizenz zum Lügenmorden, mein Schlüssel zu Türen, die mir ständig verschlossen schienen. Meine Karte durchs Land hinter den Spiegeln.

In der Bücherei gab es noch Lochkarten mit Nummern, die man um Himmels Willen nicht verlieren durfte, und die zusammen mit dem Buch und dem Ausweis abfotografiert wurde.
Ich mochte die Karten. Sie rochen nach „alt“ und die Löcher kribbelten so wunderbar unter meinen Fingerspitzen, wenn ich langsam darüber hinweg strich. Diese Karten waren mir die Katze, die ich während des Lesens streichelte.

Ich las zum Zeitvertreib, zur Sättigung, zur Beruhigung. Es ging um den Akt des In-sich-geschlossen-Seins.
Es gab diese Zeit in der wir die Wohnung für ziemlich genau 2 Stunden und 20 Minuten für uns allein hatten. 10 Minuten Hausaufgaben, 30 Minuten Sailor Moon im Fernsehen und der Rest der Zeit verwob sich zu meinem Lesenest in der Höhle unter meinem Schreibtisch.
Gegenüber von unserem Wohnhaus gab es eine Kaufhalle. Eine Tafel Schokolade kostete 29 Pfennig. Meistens bezahlte ich nicht, sondern schob die Tafeln einfach in meinen Ärmel und ging wieder. Erwischt wurde ich nie- Angst davor, erwischt zu werden, hatte ich aber auch nie.

Heute morgen dachte ich, dass ich mir mal wieder so ein Nest bauen könnte.
Ich habe es immer so genossen bäuchlings auf dem Bett zu liegen, links die Schokolade oder anderer Süßkram, rechts die Lochkartenkatze und in der Mitte der Schlüssel zur Welt.
So kam es mir wirklich vor. Die Buchstaben, die Reihe für Reihe in meinen Kopf hineinwanderten und sich dort zur etwas zusammentaten, das viele Fragezeichen unter sich begrub.

Ich merke, dass ich nicht nur die Ruhe, die Geschlossenheit wünsche. Sondern auch dieses Gefühl der Sicherheit, weil ein weiteres Fragezeichen weg ist. Dieses Gefühl, das ich früher auf meinem roten Fahrrad immer hatte, wenn ich zur Bibliothek fuhr. Der Wind vorn vorn, die Schweißtropfen im Haaransatz und das Gefühl auf dem Weg zum Wissen zu sein. Wissen und Handeln.

Da gibt es so eine Krimireihe von einem Jungdetektiv, der zum Nachdenken kalte Milch und eine bestimmte Sorte Kaugummi braucht. So ähnlich ging es mir: mein Bett, meine Sachen, ein Buch und alles wird sich richten. Das Buch würde mir sagen, worauf ich meine Lupe richten müsste, aufgrund welcher Fakten womit gerechnet werden müsse.

Heute bin ich 27 Jahre alt.
Die Bücherei ist mir entzaubert als Hort des Wissens. Vielleicht liegt es am Wunsch nach Bestätigung, der erst erfüllt sein muss, bis ich mich wieder öffnen kann. Es ist eben auch- neben allem Anderen, was bei uns so passiert- so eine Phase mit Mitte Zwanzig. Die erste Midlifecrisis, die kaum einer wirklich ernst nimmt, weil es eine Mischung aus Postpubertärem: „Ich weiß schon alles.“ und Jungerwachsenem: „Ich weiß verdammt nochmal nicht, was mir noch fehlt, um zu wissen, was ich will…“ ist.539925_web_R_K_B_by_johnnyb_pixelio.de

Ich weiß grundsätzlich, was mit mir und uns los ist.
Es ist nicht die Zeit wahllos abzustoßen. Nicht die Zeit sich nicht zu verletzen. Nicht die Zeit einem Schmerz den Raum zu lassen, den er braucht und stetig pochend einfordert. Es ist nicht die Zeit, einsam zu sein. Es ist aber auch nicht die Zeit nicht einsam zu sein. Es ist nicht die Zeit, in der Schokolade links und Lochkarte rechts, der Garant für das Gefühl, in sich selbst sicher zu sein, weil es eine Ahnung von einem Plan der eventuell vielleicht klappen könnte, vermittelt. Es ist nicht die Zeit, in der wir uns verändern müssen, sondern uns auf den Prozess selbst einlassen müssen.

Es ist die Zeit, die begann, als die Lochkarten verschwanden und durch ein Scannersystem ersetzt wurden.
Es ist die Zeit, in der wir uns klar machen müssen, was wir können, was wir haben, was wir wie jederzeit noch beeinflussen können, obwohl plötzlich fehlt, was immer da war.

Es ist die Zeit, in der wir uns hingeben müssen, obwohl wir alle wissen, dass es noch nie schlau war, dies zu tun.