“Systemsprenger”– vom Glotzfaktor, Gewalt und Realität

Ich wusste, dass es hart wird und ich wusste, dass es auch weh tun wird. “Systemsprenger” gucken.
Der Film ist jetzt bei Netflix verfügbar und wir hatten es nicht geschafft, ihn im Kino anzusehen. Jetzt, gut einen Tag nachdem wir ihn angeschaut haben, sind wir froh darum.
Wir hätten es im Kino nicht ausgehalten.

Schon die Szene am Anfang, an deren Ende Benni, die Hauptperson des Films, allein im Hof wütet – völlig außer sich ist – und alle glotzen. Lachen, höhnen, glotzen.
Nein, der Film ist wohl für niemanden, die_r wenigstens durch Erzählungen um den Zustand der deutschen Hilfe- und Helfer_innenlandschaft weiß, leichte Kost, tröstlich, inspirierend oder in irgendeiner Form angenehm zu sehen. “Systemsprenger ist ganz klar ein Film für alle, die keine Ahnung haben. Für alle, die denken, es gäbe für alles und alle Lösungen oder Orte, an denen Lösungen gefunden werden können. Alle diejenigen, die glauben, es gäbe immer von irgendwoher Mittel und Wege, um eine Antwort auf die Frage zu finden, was man mit Menschen macht, die nicht nur außer sich, sondern auch aus Familie und Gesellschaft raus sind.

Es ist der Glotz-Faktor, der mich auch heute noch beschäftigt.
Ich kann nicht schreiben, dass ich mich easypeasy von dem Film abgrenzen konnte. Das konnte ich nicht, denn ich bin noch lange nicht an dem Punkt, an dem ich meine eigenen Erfahrungen des ängstlichen Angeglotztwerdens verarbeitet habe.
Ich kann das Glotzen bis heute fühlen. Auch dann, wenn ich es nicht will, denn es gibt bis heute Situationen, die mich daran erinnern. Wie das war, nichts gegen die Flashbacks tun zu können, die mich zu einem Risiko für mich und andere gemacht haben. Wie das war, zu wissen, dass niemand auf der ganzen Welt etwas anderes dagegen tun konnte, als mich, uns, “auszuknipsen”, einzusperren und letztlich: zu warten. Wie das war, über Stunden in der 5-Punkt-Fixierung zu liegen und durch eine Scheibe angeglotzt zu werden. Angeglotzt von Hilflosigkeit im Gewaltausübungsauftrag. Angeglotzt von Leuten, die ja auch nichts dafür können. Angeglotzt von Leuten, die sich irgendwann später in der Raucherecke Tränen aus den Augen blinzeln und sagen, dass sie selber auch nicht verstehen. Dass sie selber auch nicht weiter wissen. Dass sie keinen Unterschied zwischen uns sehen, aber übermächtig deutlich spüren. In ihrem Arbeitsauftrag, in den Strukturen, in ihrem eigenen Innern.

Als Erwachsene mit einigen Jahren guter Traumatherapie und Auseinandersetzung mit Gewalt hinter mir, kann ich die Traumaspirale, den Gewalttransit daran erkennen. Weiß, dass es genau diese Situationen sind, die dazu führen, dass man als bereits traumatisiertes Kind oder jugendliche Person re_traumatisiert wird, obwohl doch alle nur helfen (wollen).
Es fällt mir noch heute schwer zu akzeptieren, dass wir diese Erfahrungen auch nie aufarbeiten können werden, wie wir die Gewalt in der Herkunftsfamilie und den Ausbeutungskontexten aufarbeiten können. Du kannst die Gewalt des Systems nicht in genau dem System als Trauma aufarbeiten, ohne das System in irgendeiner Form zu verändern. Die Konvention zu verlassen, Professionalität neu zu definieren und Grenzen aufzuweichen, die gleichzeitig aber so nötig sind.
Was das System als Wunde in dir hinterlässt, kann das System nicht als Wunde behandeln, ohne sich selbst als Verletzenden anzuerkennen. Und genau das kann es nicht, weil es sonst in seiner Hauptfunktion in frage gestellt wäre. Was nicht passieren darf. Ohne das System gibt es ja nur noch Individuen.

“Systemsprenger” wirft bei vielen Menschen die Frage auf, was man mit einem Kind wie Benni macht. Für mich ist das irritierend, denn es wird mit dem Film beantwortet, was man mit solchen Kindern macht und damit aufgezeigt, dass das die falsche Frage ist.
Man muss fragen, was man für Kinder wie Benni macht. Man muss fragen, was man für sie tun kann und darf, während es so vieles zu sollen gibt. Fragen, wie man etwas für sie tun darf und kann und soll und muss.

Aus unserer Auseinandersetzung mit unserem Projekt “das Nachwachshaus” weiß ich: Man soll als (potenzielle_r) Helfer_in/Unterstützer_in immer mehr, als man darf, als man kann, als man will.
Und: Der Bedarf ist größer als in etablierte Rahmen hineinpasst. Eigene, neue Rahmen zu erschaffen, ist aber nicht vorgesehen. Nicht einfach so. Nicht bedingungslos. Schon gar nicht das.

Ich würde diesen Text gern mit einer versöhnlichen Note beenden. Ich bin aber nicht versöhnt mit all dem.
Und ich schreibe das hier auch nicht auf, um irgendjemanden zu trösten oder zu befrieden. Ich bin die_r Letzte an die_n man solche Ansprüche überhaupt richten sollte. Denn ich bin die Person, die Trost bedarf und Wieder_gut_machung ins Leere fordern muss. Die Entschuldigungen und Entschädigungen erwartet und das zu Recht.
Ich hatte als Jugendliche nie die Chance mich gegen Hilfe zu entscheiden, nie die Chance mich vor der Gewalt in diesem Kontext zu schützen. Die Hilflosigkeit und Ohnmacht anderer wurde zu Maßnahmen an und mit mir, die in ihrer Wirkung so nie vorgesehen war und doch eintrat. Mit allen Konsequenzen, die damals wie heute kaum jemand überhaupt sieht und anerkennt.

Ich würde das hier gern lieblich enden lassen, weil ich mir das für mich wünsche. Ich würde gerne schreiben, dass das vergangen ist und nie wieder passiert. Doch das ist nicht die Realität. Weder ist es meine noch die von anderen Menschen, die, so wie sie sind, als “Zerstörer”, als “Sprenger” – und nicht als “Erweiterer”, “Eröffner” eingeordnet und behandelt werden.

5 thoughts on ““Systemsprenger”– vom Glotzfaktor, Gewalt und Realität

  1. Danke für den Beitrag, ich habe den Film gestern gesehen…
    Wie bitte kann man ein traumatisiertes, 9-jähriges Mädchen fixieren?
    Leider weiß auch ich allzu gut aus eigener Erfahrung, dass es sehr nah an der Realität ist. Ich bin auch so ein Systemsprenger, aber auf andere Art und Weise. Ich raste nicht aus, ich bleib äußerlich ruhig und verletze mich dann massiv selbst oder versuche mich zu suizidieren, was allen Angst macht, womit sie überfordert sind und weshalb ich durch die Raster des Systems falle…
    Ich glaube, was Benni, Dir/ Euch, mir am meisten helfen würde wäre etwas Verständnis und Zuwendung und Akzeptanz. Etwas Liebe und Geborgenheit um wieder heil werden zu können nach all der Gewalt…
    Stattdessen begegnen uns in diesem System eher Unverständnis, Wut, Ablehnung und noch mehr Gewalt 😥

    1. Ich glaube, dass wir mit noch mehr Zuwendung, Liebe und Geborgenheit hätten gar nicht umgehen können. Uns hat später sehr geholfen, wenn Menschen uns begegnet sind wie der Schulbegleiter. Klar, eindeutig, ruhig, präsent, ganz einfach nur Hier, Jetzt, Heute im Fokus.
      Hilfen sind so so so oft in der Zukunft, weil sie da dafür gewährt werden, aber für mich gabs das gar nicht. Zukunft, was sollte das denn sein, wenn man sich in der Gegenwart ständig wie in der Vergangenheit fühlt?
      Ich hab die Erfahrung gemacht, dass viele Helfer_innen zwar verstehen, was Traumafolgen sind, aber nicht begreifen, was das alles kaputt macht und für die Betroffenen bedeutet. Ich fänds schon super, wenn sich das System mehr für seine Überlebenden interessieren und deren Lösungsansätze anhören würde.

      1. Ja, generell wäre es sehr wertvoll endlich das unglaubliche Wissen der Betroffenen zu hören und zu nutzen…
        Und ja, zu der Zuwendung und Liebe und Geborgenheit muss definitiv auch viel Geduld dabei sein, es hat auch lange gedauert, bis ich sowas wieder zulassen konnte. Am Annehmen arbeite ich noch 😀
        Und ja, sie verstehen manche Dinge in der Theorie aus irgendwelchen Büchern, aber sie begreifen nicht, dass es für uns unser Leben ist und nicht irgendeine Theorie, dass es 1000 Kleinigkeiten sind, die in den Büchern gar keine Beachtung finden, unseren Alltag jedoch mitbestimmen…

  2. Du hast zu funktionieren. Was in deinem Leben schiefgelaufen ist, danach fragt niemand. Die Hilfen, die es gibt, sind teils selber ein Problem. Oder die Hilfe geht schlicht am Problem vorbei. Ja, natürlich kann jemand kommen und mir beim Aufräumen helfen. Diese Hilfe ersetzt aber keine sinnstiftende, passende Arbeit. Außerdem ist so eine Aktion eine größere Belastung als mich irgendwann selber dazu aufraffen zu können. Diese Hilfe ersetzt nicht, irgendwo wirklich akzeptiert zu werden, vollwertiges Mitglied einer Gruppe zu sein. Außerdem musst du in diesem System immerzu begründen, warum du diese oder jene Hilfe brauchst. Wenn dieser Bedarf nicht offensichtlich ist, hast du es schwer. Wie erkläre ich, dass es für mich von entscheidender Bedeutung ist, in einer bestimmten Gruppe als vollwertiges Mitglied anerkannt zu werden? Dazu kommt, dass es dafür gewisse Veränderungen braucht, die im Hilfesystem nicht vorgesehen sind – oder zumindest nicht aus diesem Grund. Da habe ich einen Fall von einem Gesunden vor Augen, wo das Gericht dem Jobcenter recht gegeben hat. Dabei fand ich die Argumentation des Klägers noch einsichtig. So viel zum Thema Grundrechte.

  3. Ja, diesen Film – ich hatte ihn im Kino gesehen (die große Leinwand hat es noch beklemmender gemacht) – und bin sehr bedrückt und verstört heraus gekommen.

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