Sozialneid

Es ist ein neues Wort und seine Macht ist, mich wütend zu machen.
Auf die Menschen, die ihn haben. Auf die Menschen, die ihn negieren oder ihn, in seiner Problematik für mich, nicht anerkennen wollen.
Und auf mich, denn ich stehe dem hilflos gegenüber und kann nichts tun. Ich hasse mich so sehr, wenn ich nichts weiter tun kann, als unter etwas zu leiden.

Die Situation ist, dass ich ein_e 30 jährige_r Schüler_in in einer Gruppe von 15 bis 18 jährigen Schüler_innen bin. Dass ich mit einer Schwerbehinderung lebe und diese kompensieren muss. Dass ich, anders als meine Mitschüler_innen, nicht normal bin und auch nicht so tun kann, als wäre ichs, weil mein Anderssein ganz grundlegend anders ist als ihres.
Die Situation ist, dass es für kaum jemanden an meiner Schule normal ist, mit einer Behinderung zu leben oder durchgehend damit zu leben, wie jemand eine Behinderung anders als andere kompensieren muss.
Die Situation ist, dass ich nicht den Luxus habe, ein Sonderfall nach vielen anderen Sonderfällen zu sein. Die Situation ist, dass ich damit leben muss, dass es in dem Normal einiger meiner Mitschüler_innen keine Möglichkeit gibt zu verstehen, was mein Normal im Bezug zu ihrem bedeutet.

Die Situation ist, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der alle Menschen mehr oder weniger gleich stark lernen, dass alles Verhandlungssache ist.
Wem wir als Gesamtgesellschaft durch unsere gemeinsam genutzten Institutionen und Rechte, Regeln und Verbote, Würde zugestehen und wem nicht. Wem wir unter welchen Umständen, wie, wo, warum und wozu Teilhabe ermöglichen und wem nicht.

Das beginnt damit, dass wir alle gelernt haben, dass zu jedem Gewinn ein Verlust gehört und endet damit, dass wir den Grund für unsere Unzufriedenheiten nicht bei uns und unseren Anspruchs- und Erwartungshaltungen, unseren Einstellungen und Ideen über die Dinge, die uns beschäftigen suchen, sondern dort, wo wir sie erfüllt vermuten.

Sozialneid kann man vorbeugen. Bei einem Großteil der Menschen in meiner Klasse scheint das auch gut funktioniert zu haben.
Ihnen hat es gereicht einen Einblick in meine Art der Wahrnehmung(sverarbeitung) und einen Hinweis auf das Grundrecht der Bildung für alle Menschen gleichermaßen zu bekommen, um zu verstehen, dass weder die Anwesenheit des Assistenzhundes, noch die Gewährung von Dingen, die mir als Nachteilsausgleich dienen, optional sein können, damit ich ein_e Schüler_in wie sie auch sein kann.

Sie haben verstanden, dass meine Teilhabe am Unterricht nicht optional sein kann.
Sie haben verstanden, dass meine Teilhabe nicht gewährleistet sein kann, wenn mir nicht geholfen wird, bzw. ermöglicht wird mir selbst zu helfen.

Für mich sind diese Schüler_innen und auch meine Schule, die mir diese Teilhabe an einer ganz üblichen Berufsausbildung gewährt und ermöglicht, ein Privileg und eines der wenigen wirklich großen Geschenke im Leben.
Andere autistische Menschen mit meinen Problemen lernen in einer Werkstatt und arbeiten später dort bis zur Rente im betreuten Wohnen. Für manche ist das schön und erfüllend, für andere schlimm und das Letzte, was sie sich für das eigene Leben wünschen. Für mich wäre es schlimm in so einer Werkstatt zu arbeiten, denn ich weiß, wie viel mehr ich für die gleiche Arbeit in einer üblichen anders anderen Werkstatt verdienen würde, wäre eine Arbeitskraft wie meine nicht so optional annehmbar, wie sie es für die meisten Unternehmen ist.

Für mich wäre es schlimm, weil ich mein Leben nicht dafür gerettet habe, ausgrenzt, arm und unbefähigt zur Selbstverwirklichung zu leben.
Das ist wichtig nicht zu vergessen.
Ich musste mein eigenes Leben allein retten. Dann will ich es nun gefälligst auch allein mit mir und für mich allein in alle möglichen Richtungen erfüllen.
Und zwar mit Teilhabe an Bildung, an sozialem Leben, an kultureller Praxis, an gesellschaftlichem Diskurs. Mit Würde, Respekt und Achtung vor mir und meinem Sein, wie ich bin.

Die meisten Menschen, die ich kenne, finden so einen Anspruch unheimlich kraftvoll und groß.
Sie erleben so einen feierlichen Schauer, der ihnen den Rücken hinunter läuft, weil ihnen plötzlich klar wird, wie vielschichtig und tiefgreifend dieses Normal, in dem sie sich mal mehr mal weniger angestrengt und frei, selbstbestimmt und behindert bewegen.
Bei manchen Menschen jedoch kommen solche Ansprüche als leere Floskeln ohne jeden Wert an. Bei manchen, weil sie sich diesem Wert nicht bewusst sind (und nie bewusst werden müssen) und bei manchen, weil sie bereits Erfahrungen damit gemacht haben, dass es nichts bringt, solchen Ansprüchen entsprechend behandelt werden zu wollen.

Das Schlimme ist, dass man niemals um Dinge neiden kann, die man hat oder derer man sich bewusst ist.
Das ist, was mich an dem Sozialneid zweier meiner Mitschüler_innen so wütend macht.
Die Verweigerung sich damit auseinanderzusetzen, was sie da eigentlich neiden, wenn ich früher nach Hause darf. Was sie da eigentlich “unfair” finden, wenn unsere Lehrer_innen mich fragen, ob ich lieber allein im Nebenraum arbeiten will; ob es okay ist, wenn der Beamer die 90min Gruppenarbeitszeit über durchgehend läuft; ob ich es schaffe drei Raumwechsel in einer Unterrichtstunde zu haben und so weiter und so weiter.

Es macht mich so wütend, weil ich sie um ihre Möglichkeit darum beneide und weiß, dass ich niemals in meinem Leben an diesen Punkt kommen werde.
Mit der Anerkennung meiner Behinderungen und daraus resultierenden Problemen habe ich meine Chance auf die Vermeidung der Anerkennung meiner Diskriminierungen und Privilegien verwirkt.
Ich werde niemals in meinem Leben in die Position kommen, in der ich vergessen kann, was es für ein Privileg ist zur Schule gehen zu können und was es für ein Geschenk ist, dabei jede nötige und mögliche Unterstützung zu erhalten.

Ich werde niemals in meinem Leben vergessen können, was es für ein Geschenk ist, wenn andere Menschen mich nicht ausgrenzen und dadurch direkt miterleben können, wie das erlernte Modell von “Geben = Nehmen” (wenn ich jemandem etwas gewähre, verliere ich selbst etwas) keinerlei Relevanz hat.

Ich beneide sie um ihre Möglichkeit auszublenden, wie frei und selbstbestimmt sie sich entscheiden können. Um es platt zu sagen: ich beneide sie darum, dass sie sich dafür entscheiden können, sich bewusst zu machen wie gut oder schlecht es ihnen eigentlich geht. Sie haben diese eine Wahl, die ich durch die Diskriminierungen und den daraus entstehenden Problemen, in diesem Umfang so nie hatte. Und niemals haben werde.

Ich stelle es mir viel einfacher vor so durchs Leben zu gehen. Einfacher, als ich es im Moment erlebe.
Aber natürlich weiß ich auch, dass ich das schon oft gedacht habe.
Das Sprichwort dazu ist: “Das Gras auf der anderen Seite ist immer grüner.”

Ich weiß, dass es um Perspektiven und Lebenserfahrungen geht. Und darum, dass man lernen muss, dass nicht alles Verhandlungssache sein kann. Schon gar nicht, welche Perspektive auf die Lebensqualität und Lebensumstände eines anderen Menschen die ist, der folgend man eben jene bewerten und beurteilen darf.
Nur, weil ich glaube, es wäre für mich leichter, könnte ich mich verhalten wie meine Mitschüler_innen, heißt es nicht, dass es für sie einfach ist, sich jetzt gerade so zu verhalten, wie sie es tun.

Trotzdem könnte ich auch gern, was sie können.
Und es ist okay, das auch können zu wollen. Das verändert nichts an der Realität. Es macht überhaupt gar nichts, dass ich das auch gerne möchte und neide, wo ich es vermute.
So lange ich nicht anfange andere Menschen mit meinem Neid zu belasten oder zu quälen oder ihnen die Verantwortung für meine Gefühle daran zuzuschieben.
So wie das diese beiden Mitschüler_innen gerade tun.
Höchstwahrscheinlich sogar ohne das zu merken.

4 thoughts on “Sozialneid

  1. Unser zweiter Kommentar auf eurem Blog 🙂 Wie letztens schon geschrieben, uns tut es gut hier zu lesen und wir finden uns oft in euren Texten wieder- ein erleichterndes Gefühl, nicht die einzige mit solchen Schwierigkeiten und einem Anders-sein zu sein. Wir überlegen zurzeit sogar, ob wir auch einen Blog beginnen, ihr weckt in uns so viel Lust zu schreiben – haben aber noch nicht den Mut dazu.
    Eine Frage schwirrt uns beim Lesen seit längerem immer wieder im im Kopf herum:
    Woher wisst ihr, welche der Schwierigkeiten/ Beeinträchtigungen/ „Symptome“ (…) im Autismus begründet sind, und was vom Viele-sein kommt? Von dem was wir bisher auf dem Blog gelesen haben, kennen wir so Vieles (falls wir es ansatzweise richtig verstehen, wie ihr es erlebt), was die Kommunikations-, Kontakt-, Wahrnehmungs“probleme“ angeht, aber wir haben keinen Autismus (soweit ich weiß). Ich habe das immer mit dem Viele-sein/ den Traumafolgen und der Hochsensibilität erklärt.
    Das ist eine Frage aus Interesse, kein Anzweifeln 😉

    1. Hallo Lilly
      wir wissen das selbst nicht immer zuverlässig und müssen vieles immer erst einmal besprechen und analysieren, um herauszufinden, woher was kommt.
      Viel kann man sich mit dem Viele-Sein erklären bzw. der Funktionalität der Vielheit, jedoch kann man da an Grenzen kommen, so wie wir es letztes Jahr kamen, wo die Erklärung so zweifelhaft wurde, dass wir schauen mussten, was noch in Frage kommt.

      Wir schreiben noch an unserem Buch. Da werden wir dann näher darauf eingehen 🙂

      P.S. Ich habe jetzt schon mehreren Menschen gehört, die hochsensibel sind, bei denen Diagnostiker_innen „ganz klar im ASS“ sagen würden.
      Wer weiß was es da für Überschneidungen gibt?

  2. Vielen Dank für die Offenheit.
    Bei uns wurde „sensorische Integrationsstörung“ diagnostiziert, allerdings auch als Traumafolge, was die veränderte/ gestörte Wahrnehmungsverarbeitung erklären würde.
    Aber uns geht es oft so, dass wir uns selbst in einer Viele-Menschen-Gruppe (also mehrere Leute mit DIS in einer SHG/ Klinik zb) immer noch so anders fühlen, vor allem in den Bereichen Reizverarbeitung, Kommunikation (bzw Wahrnehmung von Kommunikation) und gewisse Zwanghaftigkeit in verschiedenen Bereichen wie zb Tagesstrukturierung – deshalb interessiert uns das Thema gerade sehr. Ich weiß, man kann auch Multiple nicht miteinander vergleichen, aber wir hatten bisher noch niemanden getroffen, die diese Problematiken so kennt wie wir. Und das hinterlässt dann doch wieder dieses „ich bin immer noch anders, obwohl die anderen auch anders sind“-Gefühl, was ziemlich traurig macht.

    Na dann sind wir gespannt auf euer Buch.
    wir beginnen demnächst unseren Blog 😉

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