Menschsein


„Jeder individuelle Mensch trägt der Anlage und Bestimmung nach einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechslungen übereinzustimmen, die große Aufgabe seines Daseins ist“ (Schiller)

„In der natürlichen Ordnung sind alle Menschen gleich; ihre gemeinsame Berufung ist: Mensch zu sein. Wer dafür gut erzogen ist, kann jeden Beruf, der damit in Beziehung steht, nicht schlecht versehen. Ob mein Schüler Soldat, Priester oder Anwalt wird, ist mir einerlei. Vor der Berufswahl der Eltern bestimmt ihn die Natur zum Menschen. Leben ist ein Beruf, den ich ihn lehren will. Ich gebe zu, dass er, wenn er aus meinen Händen kommt, weder Anwalt noch Soldat noch Priester sein wird, sondern in erster Linie Mensch. Alles, was ein Mensch zu sein hat, wird er genau so sein wie jeder andere auch; und wenn das Schicksal ihn zwingt, seinen Platz zu wechseln, er wird immer an seinem Platz sein.“
(Aus: Jean-Jacques Rousseau: Émile oder Über die Erziehung, ‚Reclams Universal – Bibliothek‘)

Zum Menschsein gehört so viel.
Ich habe mich in der letzten Zeit oft damit befasst. Und musste feststellen, dass wir kein vernünftiges Selbstverständnis von uns als Mensch haben.
Wir sehen uns als „Anwesend“.
Tatsächlich sehen sich die meisten von uns eher adjektivisch, vielleicht noch partizipiell.
Einfach „da“ mit diversen Eigenschaften. Doch als Mensch in all seinen Facetten nicht.
Zu dem Thema kamen wir als wir uns einer Gruppe im System anzunähern versuchten.
Es ist eine Gruppe von traumatragenden Innenpersonen, die, wenn sie den Körper übernehmen (müssen bzw. früher mussten) in hundisches Verhalten verfallen. Wir bedienen uns der These, dass dies ihr Weg war, sich den Lebensumständen und den Anforderungen von Aussen anzupassen um unser Überleben zu sichern.
Im Innern „sehen“ wir sie als Tiere. Ob sie sich selbst so wahrnehmen wissen wir nicht.
Es ist doch die Frage, ob sie es können.
Kann ein Mensch sein Selbstverständnis verlieren?
Ist die Überzeugung Mensch zu sein ein Teil dessen, dass uns mit dem Aufwachsen mitgegeben wird? Oder sollte man von Wissen sprechen?
Wenn wir die Worte Menschenwürde, Menschenrechte, Menschlichkeit lesen, beziehen wir sie nicht auf uns. Wir haben keine Würde, keine Rechte und was Menschlichkeit ist, können wir für uns nur schwer definieren.
Betrachten wir die Körperbiologie so spricht man von der Gattung „Mensch“, Homo sapiens, mit den Primaten verwandt.
Da wir in diesem Körper- der uns, obwohl wir in ihm sind, so fremd vorkommt wie eine Kostümierung, durch das Leben trägt- stecken, erfüllen wir anscheinend schon alle Kriterien Mensch zu sein.
Doch betrachtet am Selbstverständnis sind wir lediglich existent. Genauso wie alles was uns umgibt.
Ich schrieb schon, dass wir versuchen U. das Leben nahe zubringen.
Unser Leben- das was wir als schlicht „hinnehmend“ annehmen und lediglich „anwesend“, „da“ zu meistern versuchen.
Die Frage stellt sich, ob es ein richtiges Selbstbild braucht, um das Leben als Mensch zu leben.
Wie dieses Selbstbild sein sollte bzw. in unserem Fall sein kann.
Wir haben viele verschiedene Arten zu leben überlebt.
Eingesperrt wie ein Tier unter Tieren.
In einem Haus mit allem Komfort doch mit Seelenmördern im Nebenzimmer.
In Psychiatrien, in denen Autonomie und eigenes Denken unterdrückt wurden.
Umgeben von wechselnden Ideologien und Machtdemonstrationen.
Und nun das hier.
Selbstständig, verantwortlich für Haustiere, mit Kontakten zu Menschen, die uns zur Seite stehen, uns nicht verletzen möchten und denen wir so gut wir können die Hand reichen.
Letztlich habe ich viel geschrieben, obwohl ich lediglich einen Punkt formulieren wollte:
Sind wir ein Mensch, obwohl wir uns nicht als einer verstehen?
Wenn es nach unserem Selbstverständnis geht, so sind wir nur existent.
Im Grunde die letzten pulsierenden Fasern einer Seele, die zerrissen und in alle Winde geworfen wurden.
Wieviel Mensch können wir noch sein?