Ich bin kein_e Busfahrer_in – eine Kritik am Disability-Mainstream-Aktivismus

Letzte Woche wurden in einer Potsdamer Einrichtung 4 behinderte Menschen getötet und einer schwer verletzt. Seitdem strudelt und blubbert es in meiner Timeline. Es gibt viele Threads, viele laute, empörte, wütende, verzweifelte …~aktivistische~ Tweets und in mir drin eine dumpfe Nulllinie.
Nun merke ich, dass wir keine Aktivist_in sind. Nicht so. Wir können das nicht. Nicht so. Vielleicht nicht mehr, aber wenn wir ehrlich sind, vielleicht auch noch nie so richtig. Unsere Betroffenheit in der Sache ist einfach nicht, dass wir die Opfer betrauern, weil sie auch behindert waren und getötet wurden oder weil wir Heime für behinderte Menschen eh abgeschafft haben wollen, sondern weil wir an unsere Erfahrungen mit Psychiatriegewalt erinnert werden. An eine Station, auf der wir untergebracht wurden, weil uns niemand bei sich wohnen haben wollte. An das Team, das sowohl miteinander als auch mit den Patient_innen gewaltvoll und missbräuchlich funktioniert hat. An die 3 Tage, die der Aufenthalt dauern sollte und die 5 Monate, die wir dann letztlich aushalten mussten, ohne irgendeine Chance auf Rettung von außen. Daran, dass das unser Zuhause war und für alle anderen ein Arbeitsplatz.

Ich merke, dass so mancher Aktivismus Gewalterfahrungsberichte wie unsere benutzt, um sie in Slogans zu verdichten. Merke, dass die Unterkomplexität der Aktion die Realität verzerrt, der Wissenstransfer abgekürzt und oft sogar ganz unterlassen wird, um mit der Macht der Masse zu überzeugen. Die Punkte, auf die man sich einigt, sind oft quadratisch, praktisch – und vor allem unfassbar klein.
Nach #Aufschrei dachte ich noch, dies sei dem Thema geschuldet. Sexismus ist ein großes Thema, die Situationen, in denen Menschen sexistisch denken und handeln sind vielfältig an der Oberfläche, folgen aber einer einfachen Mechanik in ihrem Kern – ja gut, das muss man wohl oft aufzeigen. Ok, ja, da ist oft nicht viel Zeit, also verkürzen wir. Ah, den meisten Leuten ist es scheiß egal, weil sie auf die Gewaltdynamik des Sexismus angewiesen sind – oh aber das ist schon wieder too much zu erklären, wer soll dem denn folgen, was ist denn Gewalt huuu – hm, naja, ok also noch ein Text mit Erklärung – ja ja iiiirgendwaaaaann nimmt sich mal jemand die Zeit das zu lesen lol …

Und jetzt ist es Ableismus.
Jetzt lese ich Texte und Threads über Ableismus und dass er scheiße ist und abgeschafft gehört und die Autor_innen teilen durchgehend in „Menschen mit Behinderung“ und „Menschen ohne Behinderung“ ein. Was eine ableistische Einteilung ist und behinderte Menschen ausschließt.
Dann wird mir unter meinem Thread darüber, was Ableismus ist bzw. wie er funktioniert, gesagt, der Gender Gap sei falsch, weil Screenreader ihn nicht gut vorlesen und überhaupt, wer so darüber schreibt wie ich würde sich intellektuell hervortun wollen und nicht an Leser_innen denken, die es einfach brauchen. Man begegnet mir also ableistisch, unterstellt mir mich und meinen Bauch zum Bepinseln vor das Thema zu stellen und fordert Einfachheit ein, als wäre sie automatisch inklusiv. Einfachheit ist aber unfassbar schwer herzustellen und für mich zumindest nur mit großer Anstrengung zu ertragen, weil Einfachheit in der Regel mit Weglassung konstruiert wird, die kompensiert werden muss. Tja, und dann steht man da.

Disability-Mainstream-Aktivismus ist wichtig. Nichts von meiner Kritik soll heißen, dass man das nicht machen soll oder es sei unwichtig „alle“ abzuholen. Aber „alle“ sind enorm viele Menschen. Unter anderem auch Menschen, die vom Mainstream – zum Beispiel aufgrund ihrer Behinderung – immer wieder weggestoßen werden.
In der Netflix-Doku „Der Sommer der Krüppelbewegung“ zählt eine Person die Hierarchie der Behinderungen auf. Diese Hierarchie bezieht sich darauf, wer wie gut oder schlecht von der Gesellschaft akzeptiert und integriert wurde (und bis heute wird). Das ist im aktivistischen Kontext meiner Meinung nach bei vielen behinderten Leuten überhaupt nicht reflektiert.
Es ist als Aktivist_in enorm wichtig sympathisch zu sein. Weiß zu sein. Gut sprechen zu können. Charmant und erfrischend witzig zu sein. Dem privilegierten Gegenüber nicht als Bedrohung zu erscheinen. Keine Schuldangst auszulösen oder ein Klima zu erschaffen, das sie auflöst. Dafür sind Fähig- und Fertigkeiten wichtig, die viele Menschen, die mit Behinderungen leben, welche im sozialen und interaktiven Bereich wirken, wenig oder gar nicht oder völlig anders zeigen können.
Als Aktivst_innen agieren wir untereinander ableistisch, wenn wir das ausblenden, unkritisch hinnehmen – ja uns sogar daran anpassen, weil wir glauben nur so etwas bewegen zu können – oder die Erwartung an einander richten, praktisch unbehindert aktiv zu sein.
Nicht ableistisch, nicht sexistisch, nicht rassistisch, nicht klassistisch – nicht normativ miteinander umzugehen, hat niemand von uns schon das ganze Leben lang gelernt, aber die Erwartung daran wird einander mit der gleichen Ignoranz angetragen, wie sie uns im Alltag mit Menschen, die Behinderungen leicht und ohne Hilfe kompensieren können, jeden Tag begegnet und verletzt.

Wir könnten es so anders machen und machen es dann doch wieder entlang der Mechanismen von Gewalt. Und wir sprechen untereinander nicht darüber, weil wir alle mitnehmen wollen.

Ich bin kein_e Busfahrer_in. Ich muss niemanden mitnehmen.


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2 thoughts on “Ich bin kein_e Busfahrer_in – eine Kritik am Disability-Mainstream-Aktivismus

  1. Man kann nicht alles einfach zusammen fassen, also zu etwas Einfachem. Man kann es schon, als Resultat sozusagen. Will man die manchmal kompliziert windenden Gedanken, die zu dieser im Nachhinein logischen, einfachen Erkenntnis geführt haben nachvollziehen, kommt man wohl nicht um Komplexität herum. Aus diesem Grund haben wissenschaftliche Arbeiten eine Zusammenfassung der Ergebnisse und der groben Vorgehensweise zu Beginn und den ganzen Erkenntnisweg, der dorthin geführt, den eigentlichen Teil also, im weiteren Teil.
    Schreibe du ruhig, wie du es magst und deine Leser finden dich/euch. ❤ Ich finde es gut.

    1. Das freut mich.
      Ja, als Autorin habe ich mir in der Hinsicht schon Fell wachsen lassen. Aber als Person, die aktiv etwas mitverändern will, ist es schwierig. Und naja. Vielleicht einfach zu schwierig.

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