die Zeitreise ~ Teil 11 ~

Wir segelten auf eine Sandstrandküste vor einem kleinen Wäldchen zu und ließen die salzige Luft auf unserer Haut kribbeln.
Ein köstlicher Geruch von Algen, vergehendem Holz und Seewasser ließ mich die Augen schließen, als ich von der Schleiereule geklettert war und meine Füße in den Sand gestellt hatte.

Kurt nahm ihr das Zaumzeug ab und ich streichelte ihre Brust, während ich mich für ihren langen Flug mit uns bedankte. Sie knibbelte, fast als wollte sie antworten, über meinem Kopf und flog in das kleine Wäldchen.  Unser Zeitreiseleiter stakste durch die Sanddünen. Wir betrachteten die nun riesengroß vor uns aus dem Boden ragenden Muschelstückchen und Steine.

“Ich hab vergessen, dass wir nun so winzig sind. Das macht das am-Strand-sein nicht so schön, wie ich mir gedacht hatte. Könnten Sie uns wieder vergrößern bitte?”, fragte ich Kurt und strich mit einer Hand über die Kante einer Miesmuschelschale neben mir. Dieser nickte und hob wieder einmal seine Arme, um in die Luft zu schnipsen und einen Glitzerstaubzauber zu machen.

Mir war ein bisschen schwindelig so schnell war ich wieder zu meiner alten Größe aufgeschossen. Kurt schien es nicht anders zu gehen, denn er schüttelte den Kopf und fixierte einen Punkt vor sich.
Ich schaute aufs Meer hinaus, dessen Horizont eine gerade Schnur zwischen oben und unten legte und die Welt so klar verteilte, wie es nur dort geht.

“Ich frage mich, wann du mir eigentlich sagst, was genau dich dazu bringt, mich als zweifelnde Blogger_in zu sehen.”, sagte ich zu Kurt, der sich auf ein Stück Treibholz gesetzt hatte und in der Landschaft umherschaute. Ich setzte mich neben ihn in den Sand und grub meine Finger in gewohnter Wischelwuschelbewegung neben mir ein. Kurt antwortete: “Nicht “zweifelnde Blogger_in” – “von Selbstzweifeln zerfressene Blogger_in”.”.
Er schaute mich spitzmäulig an und hob die Augenbrauen.

“Sie haben über 1000 Artikel aus der Perspektive eines Menschen mit DIS geschrieben. Ohne äußeren Auftrag. Ohne, dass sie in irgendeiner Form abgesichert sind. Sie arbeiten nicht mit Mediziner_innen oder Psycholog_innen zusammen und pochen immer wieder auf ihre Selbstvertretung., während viele andere, genau das nicht tun oder für unvorstellbar halten.”.
Der kleine Anzugträger stach mit seinem Finger durch die Luft vor meiner Nase und schaute mich sehr direkt an. “Sie haben keine Zweifel, an dem was sie tun – sie haben Zweifel daran, ob sie daran keine Zweifel haben dürfen.”.
Ich fühlte ich ertappt und schämte mich dafür. Ich dachte: „Wie praktisch es ist, am Meer zu sein und wieder normal groß. Ich könnte jetzt aufstehen, von diesem kleinen Scheißer weggehen und einfach für immer hier bleiben.“.

“Sie sollten sitzen bleiben.”, sagte Kurt ruhig und gelassen in meine Gedanken hinein und fuhr fort. “Der Zweifel ist wichtig. Wir Zeitreiseleiter haben nicht den Auftrag, zweifelnde Blogger_innen davon zu überzeugen, dass ihre Zweifel Quatsch sind oder unnötig. Wir sind nur Begleiter in der Rückblende und geben Ihnen die Möglichkeit zu gucken, woher ihre Zweifel kommen, um dann selbst zu entscheiden, wie viel mehr von sich Sie dem Zweifel zu Fressen geben.”.
Das kleine Wesen hob vielsagend eine Augenbraue und schloss seine Ansprache. “Sie werden dieses Konzept der Auseinandersetzung kennen.”.

Ich lachte. “Also sind sie doch so eine Art verkappter Psychoanalytiker.”. Kurt neigte den Kopf hin und her. “Na, ich denke, selbst Ihr Kopfinneres sagt Ihnen gerade, dass jedes Wesen mit dem man kommunizieren kann, auch kann, was ein Psychoanalytiker kann. Von daher …”. Er zuckte gleichmütig mit den Schultern und lächelte.

“Jedenfalls haben Sie Recht mit dem Zweifel darüber gut und richtig finden zu dürfen, was wir hier tun.”, sagte ich und schaute den Wellen und Wogen des Meeres vor mir zu. “Wir merken, dass es uns gut tut zu schreiben und uns, genau so, wie wir es tun auseinanderzusetzen. Wir merken aber auch die Bewertungen dessen von außen. Oft sind es positive Bewertungen – ganz klar.
Aber oft merken wir eben auch Missachtung und nicht wertschätzende Haltung.
Viele Menschen verstehen weder das Konzept “Blog” noch das Konzept “Selbstvertretung” – obwohl genau das die logischste Konsequenz des derzeitigen Anspruches an Menschen, die zu Opfern wurden und Menschen die psychisch belastet sind, ist. Immer wieder heißt es, man solle DAS DA privat lösen. Man solle doch lieber für sich allein damit zurecht kommen und ach am Besten dann Gewehr bei Fuß stehen, wenn irgendein glänzender Heilungsweg für irgendeine Öffentlichkeitsarbeit benötigt wird.
Und wenn das nicht passiert, dann hat man wenigstens unter sich zu bleiben. Gutes Opfer – Böses Opfer mitspielen, sich darum bemühen nie eines von “diesen Opfern” zu zu sein und grundsätzlich überhaupt und hauptsächlich an einer gesellschaftskonformen Leidensperformance zu arbeiten.”.

Ich erinnerte mich an die Tagungen, die wir besucht hatten und an den Zukunftskongress.
Einerseits die Freude da sein zu dürfen und zu merken: “Es wird sich Gedanken gemacht” und “Da sehen Menschen, was es bedeuten kann viele zu sein, bestimmte Gewalt erfahren zu haben bzw. behindert zu sein und bestimmte Ausgrenzungserfahrungen immer wieder machen zu müssen.”.
Und andererseits die Enttäuschung über das Geschäft mit der Inklusion und die noch immer ausbleibende Debatte um Deutungs- und Definitionsmacht von Psychologie und Medizin im Kontext von neuerlichen Gewaltdynamiken, wenn es um Opferhilfen und Versuche des Vermittelns geht.

“Immer wieder ist das, was wir tun “in Wahrheit” nicht gut für uns. Oder richtig. Oder was bilden wir uns eigentlich ein, wie wichtig wir sind, dass wir uns hier hinsetzen und einfach schreiben. Und wie sehr wollen wir eigentlich bemitleidet werden, wenn wir uns hier so zeigen. Oder schlimmer noch: wie verschoben ist eigentlich unsere Selbstwahrnehmung, dass wir nicht merken was wir hier “eigentlich” und “in Wahrheit” machen?”.

Ich hielt inne und schaute Kurt an. “Also falls sie das grad nicht merken: ich zähle hier gerade die Stigmatisierungen auf, die in den letzten Jahren an uns herangetragen wurden und sich alle mehr oder weniger darin begründeten, dass wir selbst auf gar keinen Fall in irgendeiner Form ein “richtiges” oder “wahrhaftes” Urteil über uns selbst fällen können, weil wir ja krank, behindert, verdisst, falsch sozialisiert, eine Frau, eine Feministin, eine linke Randikaloweltverbesserin sind, deren Ohrenrückwände noch grün, weil feucht sind. Oder schlicht: weil wir “in Wahrheit” ein mieses Stück Scheiße sind, das anderen Menschen schaden will, weil wir eine Täterin sind.”.

Ich stand auf und deutete Kurt mitzukommen.
“Lassen Sie uns ein bisschen am Wasser entlang laufen.”.

Das kleine Wesen im Tweedanzug mit Zauberjacke und grüner Haut hüpfte von seinem Platz und kam mit.
“Bis heute ist es selten, dass uns Menschen glauben, wenn wir ihnen sagen, dass wir einen Unterschied machen zwischen einem öffentlichen Auftritt, der sich darum bemüht so viele Menschen wie möglich zu erreichen und einer von der Öffentlichkeit wahrnehmbaren Präsenz, die ist, egal ob es jemanden erreicht oder nicht.”.
Die weißen Schaumkrönchen der Wellen leckten über unsere Schuhe und ich zog sie aus, um noch mehr davon zu fühlen.

“Wir hätten das ganze Programm haben können, wenn wir gewollt hätten und wirklich irgendwie einfach in die Welt rausrufen wollten: “Ich war mal Opfer und jetzt bin ich kaputt und die Welt sollte …”. Dann hätten wir jetzt einen mehrstelligen Kontosaldo, ein Buch von Vielen, einen Kinofilm von Vielen und den Ausverkauf unserer Geschichte, den wir als “Öffentlichkeitsarbeit” vor uns rechtfertigen, wann immer wir zu einer Märtyrerin gemacht werden, die wir weder jetzt sind, noch je waren.”.
Meine Stimme stolperte ein bisschen ungelenk hinter meinen Gedanken her. “Verstehen Sie – unsere Zweifel kommen nicht aus uns allein, sie kommen aus der Diskrepanz zwischen unserer Befriedigung und dem Wohlgefühl uns selbst irgendwo sein lassen zu können wie wir sind und auch unsere Entwicklung zu dokumentieren und dem was aufgrund dessen bzw. dem, was daraus gedeutet wird, an uns herangetragen wird. Aus dem Grund haben wir auch die Kommentare geschlossen.
Oft dachten wir von Kommentaren, da würde von uns erwartet, dass wir bereuen, was wir hier tun, oder dass wir uns dafür schämen oder dass wir auf keinen Fall glauben sollen, man könne uns ernstnehmen, wenn wir “das SO machen” – und das verwirrt mich, weil es bedeutet, wir sollten weder ganz eigene Befriedigung noch alleiniges Wohlgefühl daran haben.
Mal abgesehen davon, dass sie die netten und schönen Wortmeldungen anderer Leser_innen völlig überstrahlt haben, so dass wir ein mögliches Mit-anderen-Menschen-mitfreuen oft gar nicht haben konnten.”.

Der kalte nasse Sand unter meinen Füßen fühlte sich an wie ein weiches Glas. Das Meerwasser wie ein kleiner Schock, der mich mit jeder Welle neu erfasste.

“Haben Sie mal darüber nachgedacht aufzuhören?”, fragte Kurt zwischen zwei Schritten und bückte sich, um einen Stein aufzuheben.
“Wir denken jeden Tag darüber nach.”, antwortete ich und hob ebenfalls einen Stein auf. “Mit jedem neuen Text ist da der Gedanke: “Der könnte genauso gut in einen Ordner geheftet werden. Der braucht keine verunstofflichte Form.”. Und daneben das Wissen: “Würden wir es nicht verunstofflichen, wäre es nach ein paar Tagen oder Wochen verschwunden.”. Ich stellte mich schief und versuchte den Stein über die Oberfläche springen zu lassen.  Er platschte gegen eine Woge und tauchte direkt ab.

“Wir würden die Texte wegschmeißen, wie wir unsere Texte als Kind und Jugendliche weggeschmissen haben, bevor sie von anderen verschwunden gemacht werden können. Und wir würden uns damit unsere Chance auf die Möglichkeit bringen, unser Leben als Einsmensch an einem einzigen Zeitstrahl entlang sortierbar zu empfinden. Irgendwann. Vielleicht.”, ich lächelte ihn schief an, “Falls wir mal so etwas wie ein gemeinsames Empfinden für Zeit, Raum und uns als ein Selbst entwickeln.”.

Ich reckte mich und streckte die Arme in die Luft. Atmete so weit wie meine Lunge ging und hörte die Anderen neben mir und um mich herum seufzen.
“Ich zweifle manchmal daran, wie lange und wem gegenüber wir es schaffen unsere Selbstvertretung hier als gerechtfertigt und okay, und als “auch wir” aufrecht zu erhalten.  Wir sind unser ganzes Leben lang immer wieder irgendwann vor anderen Menschen eingeknickt, wenn es darum ging wie viel wir wie und wo sind oder nicht sind. Und immer wieder haben wir “Kompromisse” gemacht, wo eigentlich Zwang war. ”. Ich hob einen flachen Stein auf und versuchte erneut einen Sprungwurf.
“Das klingt, als würden Sie sich nicht zutrauen, auch außerhalb des Blogs für sich selbst zu stehen und sich selbst vertreten zu können.”, sagte Kurt und schaute mich an.

Ich nickte knapp und schaute meinem Stein nach, der nach drei Sprüngen ohne Platsch in eine Wasserfalte glitt.
“Außerhalb des Blogs können wir uns auch vertreten. Aber sich irgendwo  hinstellen und und es so zu tun, wie es für gut und richtig ist: nämlich in circa fünfhundertausend Worten inklusive aller für uns relevanten Ebenen und Ichs, die mitreden wollen – das funktioniert dort nicht und haben noch keine Wahrheit darüber, warum das so ist.”.  Wieder lenkte ich meinen Blick über die Weite des Meeres und hörte dem Rufen der Möwen zu.

Ich schloss meine Augen und lächelte.
“Vielleicht haben wir aber eine wenn …”, langsam öffnete ich sie wieder und erstarrte, als ich registrierte, dass ich in meinem Bett lag und offenbar gerade aufgewacht war. “… wir die nächsten 1000 Artikel geschrieben haben.”, beendete ich meinen Satz und ließ meine Finger durch eine kleine Lache violetten Glitzerstaubes auf dem Boden gleiten.

// Ende //


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