die gute Erfahrung mit dem Outing als autistisch und traumatisiert

Nun hatte ich also den Termin bei der neuen Hausärztin. Ich habe den Anamnesebogen ausgefüllt, den alle neuen Patient_innen ausfüllen sollen, und zwei Seiten Text über meine Traumafolgestörung und den Autismus angehängt. Dazu eine Liste meiner Behandler_innen und die Namensänderungsurkunde für den Fall, dass Berichte angefordert werden müssen, die älter sind.
Vor der Erfahrung in der Klinik 2016 hätte ich gedacht, dass ich das tue, weil es wichtig ist. Weil man Behandler_innen alles Vorwissen geben muss, damit sie überhaupt die Chance haben, irgendetwas richtig einzuschätzen und zu behandeln.
In den Monaten vor diesem Termin in der neuen Praxis kam ich mir überwiegend anmaßend, dreist, übergriffig, herabsetzend und eingebildet vor. Für wie wichtig halte ich mich eigentlich, woher nehme ich überhaupt den Gedanken, ich wäre berechtigt mir irgendeine Achtsamkeit oder Aufmerksamkeit oder … Bewusstheit? zu … erschleichen? abzuzwingen? zu erpressen? passiv aggressiv einzufordern?

Die Autismusdiagnose steht seit 6 Jahren und bis heute habe ich das Gefühl zu lügen oder irgendeine Form von Falsch zu tun, wenn ich das mitteile und in seiner Konsequenz für mein Erleben und meine Bedürfnisse erkläre. Egal, wem. Egal, wann. Egal, warum. Und ja, ich kann genau darauf zeigen, warum das so ist. Weil es das eine erste Mal, wo ich es gesagt habe, wo ich es mit.geteilt habe, wo ich mich geöffnet habe, weil ich dachte, das wäre sicher und ok, so derartig schlimme Konsequenzen und Probleme zur Folge hatte. Denn wenn es schon dort so falsch, zu böse, so sehr zu viel ist, dass man mich verletzen muss, um mir den Kopf geradezurücken, wie schlimm würde es erst werden, wenn ich das in anderen, viel weniger geschützten Kontexten täte?
Ich habe in den Jahren danach in Sachen „Autismus und Dinge für mich anpassen“ nichts ohne den Begleitermenschen und den Facharzt, der die Diagnose bestätigt hat, gemacht. Wirklich nichts. Wie ein Schutzschild habe ich deren Expertise und all das ableistische Macht-Hick Hack ausgenutzt, um uns vor einer Wiederholung dieser Situation zu schützen und gleichzeitig selten ausgedrückt, dass ich weiß und zutiefst bedauere, dass ich ihren Status und damit auch sie in Teilen so missbrauche ausnutze.

Es gab inzwischen aber auch gute Erfahrungen. Vor allem bei der Arbeit im Verlagskollektiv und in anderen Kontexten, in denen bewusst und sensibel mit Hierarchie umgegangen wird. Da merke ich, dass die Adjektive, die ich für mich gefunden habe und verwende, tatsächlich als Hinweise auf Eigenschaften von mir verstanden werden und damit logischerweise als auch für mein Leben in der Gruppe und der Welt bedeutsam.
In einem Hierarchie-sensiblen Umfeld gibt es die Vorannahme, man wolle sich besonderer machen als andere nicht, denn besonders oder anders zu sein, verändert dort nicht die soziale Positionierung zu einander. Man könnte sagen, dass dort alle besonders und nicht besonders sind, weil alle anders als die anderen sind.
Sobald man sich nicht mehr um die Hierarchie kümmern und sorgen muss, entstehen freie Ressourcen. Für mich entsteht so mehr Raum mich bewusster mit den eigenen (Grund)Bedürfnissen und den Möglichkeiten diesen nachzukommen auseinanderzusetzen und entsprechend mehr Raum, das zu üben und auszuprobieren. Folglich lerne ich einen Gegenentwurf zu den Erfahrungen, die ich früher gemacht habe, kennen. Ich fühle mich dem Leben in Macht- und Gewaltdynamiken nicht mehr nur ausgeliefert und von Menschen, die sie ignorieren oder für sich benutzen, um mit mir zu interagieren, nicht mehr so abhängig wie früher.

So habe ich mich vielleicht ein wenig verändert in der letzten Zeit.
In meinem Text an die Ärztin steht nicht drin, dass ich autistisch bin und was Autismus ist, sondern, dass ich autistisch bin und wie welche Dinge auf mich wirken und was diese Wirkung mit mir – und den Möglichkeiten mich zu untersuchen oder zu behandeln – macht. Da steht nicht drin, dass man besonders vorsichtig mit mir sein muss oder überwiegend lieb und zart und auch keine Formulierungen, die in anderen Menschen die Idee entstehen lassen könnte, dass ich das möchte. Da steht hauptsächlich drin, was ich brauche, um informierte Entscheidungen über meine Behandlung treffen zu können und nicht in irgendeiner Form verwundet oder überanstrengt wieder nach Hause zu gehen. Was Ansprüche sind, die sich aus Grundbedürfnissen, also aus der Selbst-Existenz, ergeben. Und nicht aus Ansprüchen der Selbst-Verwirklichung, also sekundären Bedürfnissen, die sich ganz natürlich entwickeln, wenn alle primären Bedürfnisse erfüllt sind und entsprechend nicht zu existenzieller Bedrohung führen, werden sie nicht erfüllt.

Ich glaube, dass ich nun etwas verstanden habe, was ich damals vor 6 Jahren, sehr dringend mit Unterstützung verstehen und verarbeiten wollte. Denn das war ja das ganze Thema damals. Das war ja der Grund, weshalb ich dort war, weshalb es mir so schlecht ging und was mich völlig ver.zweifelte: Das umfassende Begreifen von einem Leben, in dem auch dann die meiste Zeit gegen meine Bedürfnisse entschieden und über meine Grenzen hinweg mit mir umgegangen wurde, wenn ich nicht misshandelt oder ausgenutzt wurde. Ein Leben, in dem nichts nicht schlimmes, schmerzhaftes, quälendes übrig bleibt, wenn man das konkret und allgemein als Gewalt anerkannte Erlebte dissoziiert vermeidet rausstreicht.
Ich hätte damals niemand gebraucht, die_r sich mit Autismus auskennt. Es hätte gereicht, wenn ich es mit Menschen zu tun gehabt hätte, die begreifen, was es bedeutet, wenn man ein Leben ohne erfüllte Grundbedürfnisse zu führen gezwungen war und darin wirklich von allen Menschen – auch den lieben und netten – miss.be.achtet wurde. Beziehungsweise, was für eine schlimme Krise das ist, wenn man das von jetzt auf gleich kapiert, aber noch nicht ganz nachkommt, weil man gleichzeitig zufällig auch Viele und einigermaßen therapieerfahren ist.
Und was es bedeutet, wenn man mich in dieser Krise wiederum missachtet. Aus genau den gleichen Gründen.

Ich glaube nicht, dass ich je wirklich darüber hinwegkomme.
Aber, dass es mich nicht mehr so beeinflusst, merke ich jetzt, nach einer wirklich guten Erfahrung mit der neuen Hausärztin, sehr deutlich. Ich merke, dass niemand „fließend autistisch“ können muss, um meine Sprache zu verstehen. Um mich zu verstehen. Zu begreifen, was ich brauche, um etwas für die Bedürfniserfüllung anderer tun zu können und so zu einem balancierten Miteinander beizutragen.
Dass es auch ohne besonderes Schutzschild in einem besonderen Kontext möglich ist, nicht verletzt und missachtet zu werden, sondern sogar ganz einfach, ganz leicht, ver.sorgt zu werden.

Ja, vermutlich musste ich mich nicht „einfach nur trauen“ oder „mich einfach nur dafür öffnen“ – ich habe vielleicht überwiegend Glück mit dieser Hausärztin und mit den Menschen im Kollektiv und vielem anderen. Aber ich musste mich auch trauen. Ich musste mich auch öffnen. Ich musste auch aushalten, dass ich am Ende immer nur ins Himmelblaue hoffen kann, dass es nicht wehtun wird, mich für mich selbst einzusetzen.

Aber diesmal hats geklappt und daran will ich mich in Zukunft genauso erinnern wie an die schwierige Erfahrung früher.

7 thoughts on “die gute Erfahrung mit dem Outing als autistisch und traumatisiert

  1. Das macht Mut. Insbesondere diese selbstbeobachtete Veränderung. Was im Arztbericht steht und was nicht mehr.
    Danke fürs Erzählen.

  2. Mich würden die zwei Seiten sehr interessieren. Ich finde das ist ein super Instrument, zumal die Interaktion beim Gegenüber sitzen oft das Ganze auch mal daneben geht. Man wirkt gesund und energisch und das ist ja das Problem zum Beispiel als Mensch mit („hochfunktionaler“) ASS. Eine andere Frage: Wieso hast du Du Profis missbraucht? Es ist doch nun mal so, dass man für alles Atteste und Stellungnahmen braucht. Ich nehme an, dein Umzug, deine Arbeitsaufnahme und deine Begleitung gingen nicht einfach so. Also wieso kritisierst du das an Dir? Würde mittlerweile sagen, wer Diagnosen stellt, sollte auch in der Lage sein die Behinderungen einzuschätzen. Das das offensichtlich in unserem System nicht automatisch läuft, ist ja die eigentliche soziale Ungerechtigkeit. Wieviel Hausärztinnen gibt es denn und wo die zwei Seiten freiwillig lesen? Berichte anfordern okay, aber werden die immer gelesen und verstanden? Dritte Frage: Mehr ein Tipp für uns: wieweit chronologisch lässt Du Einblick zu? Die letzten 20 Jahre, die letzten 10 Jahre oder die letzten 6 Monate? Wie lange zurück liegend? Vielen Dank für deinen anregenden Beitrag und liebe Grüße!

    1. Hey,
      Ich habe sie in sofern ausgenutzt als dass ich ihrer Sicht mehr Gewicht verliehen habe als meiner Bedürfnisäußerung oder meiner Perspektive auf mich selber. Ich habe da zwar nie Verantwortung abgegeben oder sie für mich bestimmen lassen, aber ich habe ohne sie im Background auch nichts angesprochen oder gewünscht.

      Und naja, zwischen diagnostizieren und einschätzen können, was Diagnosen in letzter Konsequenz im persönlichen Er_Leben der Menschen bedeuten sind unterschiedliche Kompetenzen, die unterschiedlich abverlangt werden. Dass es da oft ungleich starkes Können gibt erscheint mir logisch.

      Wie ist die Frage mit dem chronologischen Einblick gemeint? Wie lange ich hier schon schreibe oder…?

  3. Hey dein/euer Beitrag berührt so tief!!!

    Ich finde es unheimlich mutig mit allem an Vorerfahrung trotzdem zu trauen.
    Vielleicht auch, weil es keine passendere Alternativen gibt. Weil es bedeuten würde sich nicht behandeln lassen zu können? Und gut, dass ihr wisst, was ihr braucht. Das alleine ist ja schon eine Hürde oft, hier zumindest.
    Keine Ahnung. Es macht hier eine Träne, weil wir das Schutzschild nicht haben oder die „alten Verletzungen“ mit Behandlern nicht versorgt sind. Und nicht genau wissen wie. Wahrscheinlich mit guten Erfahrungen…. wie ihr sie heute gemacht habt. Ganz liebe Grüße

    1. Für mich ging es bei der Sache um das Outing und den Wunsch mitzubestimmen, wie es für uns ist dort in Behandlung zu sein. Nicht darum, ob wir uns behandeln lassen oder nicht. Das ist ein wesentlicher Punkt für mich. Ein Traumapunkt vielleicht.
      Weil das ja die alte Logik ist, ne? „Fühlt sich scheiße an, davon halte ich mich lieber fern für immer und ewig“
      Aber wir wollen leben und zwar so gesund wie es geht. Dazu gehört, dass wir uns kümmern und dazu gehört uns behandeln zu lassen. Ganz klar.
      Sich nicht behandeln zu lassen ist für uns selbstverletzendes Verhalten und das haben wir hinter uns.
      Aber ungeoutet in Behandlungen zu gehen bedeutet für uns enorme Kraftanstrenungen und manchmal auch Schmerzerleben. Außerdem Missverständnisse und darüber dann Triggern de Situationen ohne Ende.
      Das ist verhinderbar und wir wollen das schaffen ohne auf andere Menschen und ihre Schutzschildfunktion für uns angewiesen zu sein. Es ist immer gut als Backup, aber war viel zu lange eben kein Backup sondern… äh „Frontup“? 😅

      Fühlen üben was man braucht und wie man sich dann darum kümmert ist wirklich eine wichtige Basis. Vielleicht wirklich da anfangen.
      Wir wünschen euch, dass das klappt!

  4. Die Perspektive auf sich selbst nicht zu äussern ist ja „Konsens“ – ist erschreckend wie das in der Praxis läuft. Da betrachten wir Euch schon als sehr mutig und stark was das angeht. Ich weiß ja nicht wie das konkret bei Euch ausgenutzt wurde. Beispiel wäre gut. Nun die Frage nach der chronologisch Einsicht. Das war nur eine Frage bzgl der alten Berichte, bis wohin Du die da angibst, weil das ist die Frage wieviel Draufsicht braucht jemand als neue Behandler, ist es nicht besser weniger anzufordern? Wir wissen nicht, wo wir da eine Grenze ziehen. Vielleicht ist die Frage etwas verquer gestellt. Nur wir haben gerade auch nur einen Bericht und wegen Behandlungsfehler zum Beispiel aus Psychotherapie kaum weitere. Bei Euch liest es sich anders.
    Wieviele Ärzte/NetzwerkpartnerInnen sind denn wichtig deiner Meinung nach?
    Eure Texte sind immer eine Bereicherung. Danke.

    1. Ich lasse der neuen Hausärztin alles zukommen, was gerade behandelt wird bzw. wer mich gerade warum behandelt. Dann brauche ich in Notfällen nicht mehr vermitteln oder an Zettelage denken, sondern kann die Praxen miteinander reden lassen, sollte das nötig sein.
      Wir haben durch unsere körperlichen Erkrankungen einige Behandler_innen und ein entsprechend großes, aber auch differenziertes Netzwerk, was erschlagend wirken kann, aber eben den einzelnen Leuten (und uns) viel Entlastung bringt, weil sich niemand sonderlich aus der eigenen Profession herausbewegen muss, sondern einfach überweisen kann.
      Von der Chronologie gehen wir nicht sehr weit zurück. Letzte stationäre Aufnahme nach Krampfanfall, letzte Aufnahme wg Herz, allgemeiner Bericht vom Lungendoc, vom Kardiologen… so halt.
      Meine Akte bei der letzten Hausärztin vielleicht noch, wenn das möglich ist. Ich glaube nicht, dass Behandler_innen bei „ganz unbeeinflusstem Nochmaldraufgucken“ etwas anderes finden oder sehen als die Kolleg_innen, aber wir haben auch keine lange Liste mit Falsch- und Fehlbehandlungen. Insofern ist das wohl etwas, was man sich überlegen und besprechen muss.

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