die Einladung zum Klassentreffen

Ich hatte mich bei „StayFriends“ angemeldet, weil mein Buch ursprünglich eines werden sollte, dass Eltern und deren jugendliche Kinder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie erreicht.

Ich wollte ein paar alte Kontakte aufnehmen, Interviews machen, die Ursachen und Folgen des Klinikaufenthaltes erfassen und darstellen. Irgendwie will ich das heute noch, doch ich merkte damals, wie umfassend dürr mein soziales Netz war und schob es auf.
Ich fand nur zwei ehemalige Mitpatientinnen und wir waren zu weit voneinander entfernt- sowohl räumlich als auch so im Alltag, dass ein Gespräch, wie ich es für mein Buch hätte führen müssen, nicht zustande kam.

Ich bin sowieso auch eine, die es nicht so hat mit der Objektkonstanz: Wenn ich mich nicht regelmäßig an die Menschen erinnere, fallen sie und alles was mit ihnen zu tun hat, aus dem Kopf.

Heute Nacht kam eine Email von der Webseite mit Kontaktvorschlägen.
Ein Name ließ ein Kinderinnen an der Innenseite meiner Stirn tippen: „Die J. is in meiner Gruppe. Bei Fräulein H.- die is eine liebe.“. Wir versuchten klar zu machen, dass dieses Innen heute nicht mehr im Kindergarten ist, dass wir erwachsen sind und, dass auch die J. heute eine ganz erwachsene Frau ist.

Aber wie das so ist. Ich weiß, dass das Kinderinnen nun irgendwo auf dem Rücken des Schwans sitzt und abgeschirmt wird- aber sich selbst noch immer in einem Kinderkörper, der zum Kindergarten geht, wähnt.

Die Frau hatte mich angeschrieben mit vielen Grüßen und der Frage, ob ich diejenige welche aus dem und dem Kindergarten sei. Ich bestätigte es und grüßte zurück.
Klickte mich durch die Seiten der anderen Kontaktvorschläge, merkte wie ich immer weniger vom Körper fühlte, weil sich mehr und mehr Schotten nach innen verschlossen. Irgendwann kamen keine Rückmeldungen mehr über die einzelnen Menschen und ich schaute mir meine potenziellen Abschlussjahrgänge an. Klassenfotos von vom Abschlussjahr. 4 Reihen Abiturienten, Realschulabschlüssler, Gesamtschulabschlüssler.

Wie klein und doch erwachsen sie alle aussehen. Schön angezogen, lächelnd.
Viele neue Gesichter kamen in die Klassen, seit wir weggingen.
Als sie ihre Zukunftszettel machten, gingen wir durch die Hölle aus Gewalt und Befreiungskampf. Waren gut dabei, wenn wir nicht den Tag zwischen Krampfanfall und Medikamentendröhnung verbrachten, sondern einfach nur unter Schmerzen leidend auf einer Couch lagen und die Katze streichelten.

Wir hatten keine eigene sichere Wohnung, eine Betreuung die uns nicht half, Ämter die unsere Situation nicht verstanden, eine Therapeutin, die nebulös im Hintergrund waberte und eine Beziehung, die uns einfach irgendwie das Wasser vom Hals zu löffeln versuchte.

Ich habe gesehen, dass uns eine Klasse zwei Mal zu einem Klassentreffen in die Stadt eingeladen hat.
Das berührt mich sehr, weil wir nur kurz in der Klasse waren und damals weit entfernt von dem Verhalten eines Menschen waren, mit dem man gern seine Zeit verbringt. (Ich kanns nur wiederholen: Wir waren kein huschiges Mäuschen mit großen Kulleraugen, aus denen unsere Not sprach. Im Gegenteil- ich könnte heute jeden verstehen, der einfach nur angepisst und genervt war.)

Einmal abgesehen davon, dass wir die Stadt nie wieder besuchen können werden, ohne uns in Gefahr zu bringen, frage ich mich natürlich doch, wie es den Menschen heute geht. Was sie machen und wie es ihnen ergangen ist. Was haben sie für Ziele und Ideale entwickelt?
Es ist Neugier.
Aber eine Selbstzerstörerische.

Ich würde es nur wissen wollen, um mich zu vergleichen und, dass ich immer „schlechter“ da stehen werde, liegt auf der Hand. Das „Schlechter“ habe ich in Anführungszeichen gesetzt, weil ich weiß, dass es nur auf einer bestimmten Leistungsebene „schlechter“ wäre. Sie haben einen Abschluss in Studien oder Ausbildungen, stehen vielleicht im Beruf oder haben mindestens die Berechtigung oder Möglichkeiten dazu einen aufzunehmen. Manche von ihnen haben bereits geheiratet und gebaren Kinder. Oder versorgen eigene Kinder ohne geheiratet zu haben. Sie haben eine mehr oder weniger intakte Herkunftsfamilie und kommen mehr oder weniger gut zurecht.

Sie haben bei Normalnull angefangen und sich von dort aus angeeignet, was sie brauchten, um sich ein Leben zu gestalten, wie sie es heute führen. Ihr Weg zu dem was sie heute sind, wird anders sein als meiner.
Ich war in keiner Schulklasse länger. Ich war in zwei Grundschulklassen, zwei Gymnasialklassen, 4 Klinikschulklassen, einer Gewerbeschulklasse und zwei Abendschulklassen bis ich einen Abschluss vorzuweisen hatte. Ich machte meinen Schulabschluss knapp 2 Jahre später als sie, habe nie fest angestellt irgendwo gearbeitet. Alles was ich mir angeeignet habe (und nachwievor aneigne) dient dem Zweck an „Normalnull“ heranzukommen.

Ich fange an dieser Stelle nicht an „Normalnull“ zu definieren oder zu dekonstruieren, um mir etwas schön zu reden oder so zu tun, als hätte ich einen breiten Blick auf das, was „normal“ ist.
Diesmal verzichte ich darauf, weil ich weiß, dass ich mich in dieser einen speziellen Gruppe eben „unnormal“ fühlen würde. Es bereits jetzt tue- und schon damals tat. Und weil ich weiß, dass dieses Gefühl berechtigt ist. Ich würde mich mehr damit verletzen, würde ich meine damaligen und auch heutigen Lebensumstände als etwas betrachten, dass man im statistischen Sinne mit „Streuung“ bezeichnen würde. Als Teil der Wertesammlung, doch eben im äußeren Bereich.

Das was wir als Säugling, Kleinkind, Kind, Jugendliche und Erwachsene durch- und überleben mussten, ist nicht normal gewesen. Es war so unnormal, dass wir unnormal wurden. Wir wuchsen nicht, wie ein Baum aus einem Samen, sondern wie ein Strauch aus vielen Samen. Unsere Entwicklung war anders und wird immer anders sein- auch wenn wir es schaffen unsere Vielheit zu bündeln und zusammenwachsen zu lassen, werden die Blüten und Früchte unseres Seins immer aus vielen Keimlingen hervor gekommen sein.

Wir werden Gemeinsamkeiten finden, vielleicht auch auf Gewaltüberlebende treffen, werden auch Hartz4 Empfänger treffen, werden ebenfalls „psychisch kranke“ Menschen entdecken, aber soweit ich weiß ist niemand von ihnen mit 15 aus seiner Familie gegangen und wurde so ausgebeutet wie wir.

Ich würde mich gern vom Gegenteil überzeugen, würde gern sehen ob meine Gedanken stimmen, ob mein Gefühl vom „am äußeren Rand stehen“ passend ist. Ich würde einige der Menschen gerne sehen. Manche auch nur um ihnen nachträglich zu sagen, dass ich ihr Leid gesehen habe.
Manchen würde ich auch gerne vermitteln, warum ich war, wie ich war.
Und manche würde ich auch gern einfach aus ihrer privilegierten Welt ein Fenster aufmachen.

Aber es ist noch nicht soweit. Es geht nicht.313759_524341310921951_1497324588_n
Ich fühle mich noch nicht auf Augenhöhe mit ihnen.
Es wäre anders, wenn ich eine Berufsbezeichnung und Leistungsergebnisse vorzuweisen hätte, die ich wie ein leuchtendes Ablenkungsschild vor meine Wurzeln halten könnte.
Wenn ich eben den gleichen Schutz hätte wie sie.

Ich bin traurig, weil ich das noch nicht habe und aufgrund dessen einen Teil meiden muss, der mich dem „Normalnull“ näher bringen könnte. Nämlich den, einfach so auch Kontakte von früher aufnehmen zu können.

Es würde mir helfen mich und mein Leben früher, breiter zu betrachten und zu sortieren. Es würde so manch ein „kleines Warum“ beantworten können. Es würde mir helfen einen Stein an die Stelle zu legen, die mich schmerzt. Doch auch diesen Stein muss ich erst einmal anheben können.