über meine Lebensrealität

15849_web_R_by_Maclatz_pixelio.deIch habe da diese Macke fürs Blindsein über mich selbst als ganzer Mensch.
Für mich sind Dinge eine Definitionsfrage, die für andere Menschen scheinbar felsenfest klar sind. Meine Lebensrealität ist eine Mischung aus unterschiedlicher Sehstärke und absoluter Blindheit.

Ich nehme Dinge in all ihrer Unsicherheit auf und passe mich ihr an. Bin permanent gezwungen dem Fakt gegenüber zu stehen, dass ich nichts beeinflussen kann- nicht einmal mein Handeln, Fühlen, Denken. Wenn ich nicht da bin, sind andere Innens da. Sie handeln manchmal in meinem Sinne, meistens jedoch in ihrem allein. Kompromisse beziehen sich allein auf einen Entsprechungs- , Anpassungs- , früher, wie heute auch Überlebensdrang. Vor allem, wenn es eine Bündelung braucht, weil es (noch) kein eigenständiges Innen gibt, das von sich aus bereits komplett darauf abgestimmt ist.

So zum Beispiel heute, der Umgang mit Menschen die uns positiv gegenüber stehen. Oder auch Menschen, die unser früheres Leben anders bewerten als wir, mitsamt allen geistig-sozialen Normen und Werten. Im flachen Miteinander gibt es Innens die daran angepasst sind. Sie nicken, lächeln, sagen was gehört werden will. Es ist ein zurechtgespaltenes Anpassen. Ohne Bezug zu dem was für andere Innens wahr und echt ist. „Das Außen lebt Wahrheit XY und erfordert die Vertretung von Norm und Wertesystem AB? – Kein Problem- finde ich auch- mache ich auch- das Außen ist Chef- ich kann das vertreten.“.

Diese Trennung der heutigen Welt mit allem was in ihr passiert, von der in der wir früher lebten, ist selten besprochen. Der Umstand beides nebeneinander stehen lassen zu müssen, weil es keine klare, wirklich ganzheitliche, Positionsentscheidung darüber gibt, ist zeitgleich quälend, wie aber doch auch schlichte Realität in unserem derzeitigen Dasein. Sie ist so sehr Alltag, dass ich sie lebe, ohne sie wirklich oft zu erwähnen oder zu hinterfragen. Oder auch zu spüren. Die Anpassung ist fertig, weil lebbar. Mehr braucht es nicht. Für mich ist es dann so wie ein Buch, das man ausgelesen hat. Inhalt ist im Kopf, man klappt es zu und legt es im Bücherregal ab.

Gestern habe ich mit unserer Therapeutin telefoniert. Am Ende sagte sie, was sie irgendwie immer sagt: „Wir sehen uns nächste Woche“. Als wäre das ein Fakt, der in jedem Fall so einträte und als gäbe es keinen Grund daran zu zweifeln. Das ist so die Sparte „Es gibt immer ein Morgen und wir werden es erleben.“

Ich weiß nicht warum, vielleicht war ich einfach entspannt und „auf“, als ich da so auf dem Schlafzimmerboden saß und den Hund am Bauch hatte, keine Ahnung. Aber ich sagte so etwas wie: „Ja, wenn wir es bis dahin schaffen, dann sehen wir uns dann.“.

Ich glaube, für sie klang das wie eine Suiziddrohung oder etwas Ähnliches. Als hätte ich gerade gesagt: „Ja das können wir uns vormerken, aber ich halte mir hier meinen Notausgang frei, mir das Leben zu nehmen, wenn ich es nicht mehr aushalte.“. Wir sprachen also kurz über Verantwortung und darüber was unser Tod so verursachen könnte. Sie sprach über Einschätzbarkeit- genau wie ich, als ich das sagte. Nur jeweils von einer anderen Grundlage aus betrachtet.
Sie folgte einem Kontrollimpuls (oder sollte ich besser sagen „Kontrollzwang, der ihr aufgedrückt wird“?) und ich deutete den zentralsten Teil meiner Lebensrealität an: in weiten Teilen des Alltags absolute Kontrolllosigkeit.

Therapeuten sollen einschätzen können, ob sich jemand das Leben nimmt oder nicht.
(By the way- ein beschissener Anspruch an Menschen in diesem Beruf, denn Suizid ist so ziemlich das Selbstbestimmteste, das es gibt für ihre Klienten- wenn sie sich dafür entscheiden, haben sie nichts damit zu tun. Die Handlung ist von Klienten geplant und durchgeführt- nicht vom Therapeuten initiiert, eingefordert oder gar durchgeführt. Nur, weil sie diese Menschen begleiten, haben sie, meiner Meinung nach, keine Verantwortung dafür. Weder, weil sie die „Profis“ sind, noch weil sie Kontakt zu ihnen hatten.)

Wir haben für die Therapie eine Vereinbarung getroffen, keinen Suizid zu begehen, solange wir bei ihr in Behandlung sind und uns zu melden, wenn es Impulse in diese Richtung gibt bzw. Hilfen in Anspruch zu nehmen, um diese Impulse im Durchbruch nach außen zu verhindern. Entsprechend dieser Vereinbarung bin ich gezwungen eine gewisse Selbstkontrolle durchzuführen, ob es diese Impulse gibt oder nicht und die Wahrscheinlichkeit für eine entsprechende Handlung nach außen einzuschätzen.
Schätze ich sie hoch ein, rufe ich bei ihr an- manchmal auch, ohne das genau so zu formulieren. Es steht immer eine Not dahinter, die auch ohne die Erwähnung von Suizidimpulsen, weniger groß erscheint, wenn wir sie ihr gegenüber ausdrücken und/ oder sortieren können.

Ich wurde fast wütend, weil ich glaubte, sie hielte es für wahrscheinlich, dass ich mir jederzeit einen Suizid quasi freihalte- anstatt meinen Wahrnehmungsalltag zu benennen.
Doch dann raunte es mich von innen an, dass sie es vielleicht einfach nicht weiß, oder gerade nicht so bewusst hat. Wir vielleicht auch einfach noch gar nicht darüber gesprochen haben, was wir Innens jeweils so wahrnehmen und erinnern im Alltag.

Ich bin eine Frontgängerin. Ich mache viel Alltag, bin nach Außen aktiv. Ich bin ein Produkt dieses Anpassungsdrangs an „die andere Welt“. Der Welt in der es Menschenrechte, Ethik, Moral und Respekt gibt. Ich vertrete diese Normen und Werte nach außen hin und kann mich einigermaßen sicher darin bewegen.
Doch von einem Tag erlebe ich etwa 10%- wenn wir aktiver sind als jetzt (also ohne Arbeit oder viel Sozialleben) sind es etwa 15-20%. Der Rest wird von den anderen gelebt- erlebt- wahrgenommen. Sie leben ihr Leben in meinem drin, oder auch nebenher. Ich erfahre davon in Stichworten im Tagebuch, finde hier und da mal etwas davon in meiner Wohnung oder bügle ihre Konflikte aus, auch ohne wirklich (als ich) damit zu tun zu haben. Es ist normal für mich. Ich rechne jeden Tag damit mit einer fetten Kaufhausrechnung konfrontiert zu sein, Dinge die mir lieb sind, zerstört, tot oder weggeworfen zu finden, den Körper verletzt, benutzt zu erfahren. Das ist einfach so der Alltag mit dissoziativen Amnesien. Alles kann passieren, jeden Tag, jeden Moment- ob ich es will oder nicht. Egal, wie ich das einschätze und es gerne hätte.
Und eben leider auch eigentlich egal, welche Absprachen ich allein mache.

Sobald eine Absprache alle von uns betrifft (auch die, die sich nicht als Teil von „uns allen“ betrachten), klappt es. Da habe ich einen Haken zum dran Festhalten, Schwung holen und Handeln. So zum Beispiel eben bei den Vereinbarungen zur Therapie. Doch eine Antisuizidvereinbarung allein bedeutet eben nicht, dass ich so ganz sicher zum nächsten Termin auch erscheine.
Natürlich habe ich noch nie einen Termin versäumt oder absagen müssen- aber es gab bereits genug Termine zu denen ich erschien, nachdem ich einige Kilometer rennen musste, um pünktlich zu sein. Etwa, weil 15 Stunden vorher jemand geflüchtet ist und ich mich irgendwo im Nirgendwo wiederfand. Oder auch Termine vor denen ich erst mal noch nicht einschätzbar lange irgendwo zu warten hatte, um etwas zu erledigen, weil es gerade der letzte Fristtag war.

Das passiert mir heute nicht mehr so oft wie früher, als es noch Zeiten gab in denen uns Täter zu Therapieterminen fuhren, oder von dort direkt mitnahmen. Als es noch Zeiten gab, in denen wir alle diesen Fakt der Selbstblindheit- der Amnesie für sich und sein Leben, als ein von Therapeuten eingeredetes Konstrukt hielten und noch viel weiter von einander weg dissoziiert waren.

Aber es passiert. Es ist wahr und echt und eben mein Alltag.
Ich habe gestern etwas gesagt wofür ich mich heute irgendwie ohrfeigen könnte, obwohl es stimmt.
„Nein, es ist nur eine Perspektivenfrage. Ich lebe mit Todesangst und sie nicht.“.
Ich hätte richtigerweise sagen müssen, dass ich mit Amnesien und Kontrollverlusten lebe. Noch richtiger, dass ich mit einem Maß von Dissoziation lebe, dass sie nicht von sich kennt.

Doch Todesangst ist auch richtig.
Wir würden nicht so viel dissoziieren, hätten wir keine Todesängste oder Ängste, die uns an Todesängste erinnern.
Wer Todesangst hat lebt ausschließlich in der Gegenwart, mit mehr oder weniger bewusstem Bezug zur Vergangenheit. Das Morgen ist immer mehr nebulöse Option, schwammiges Hoffnungsschimmern an dem man sich festzuhalten versuchen kann. Man kann das machen, man kann es tun. Wir tun das auch.

Doch wir tun das nicht in der festen Überzeugung, es auch wirklich zu erleben.
Das Morgen ist für uns noch immer die Belohnung für die Mühen das Gestern und Heute geschafft zu haben.