Arbeiten und Leben

“Es wär so schade, wenn’s an der Arbeit scheitern würde…”.
Es ist die Nacht auf den ersten Mai und zum ersten Mal seit immer, seit… sitzen wir am Computer.
Wir lesen uns durch die offiziellen Webseiten kanadischer Behörden und Informationsportale und die Realitäten, die unser Auswanderungsvorhaben als fester Grund von Anfang an begleiten, verwandeln sich Seite um Seite mehr in flüssigen Beton.

Vorgenommen hatten wir uns nur, ein Jahr wenigstens mal zu gucken und zu probieren.
Das ist schon krass genug eigentlich. Die Kohle dafür müssen wir ja auch erst mal haben.
Aber bleiben zu können, wäre schon auch gut, wenn es uns dort gefällt.

Tja. Aber dann. Die Wirtschaftskrise hat auch Kanada getroffen. Die Arbeitslosenquote liegt in manchen Provinzen sogar deutlich über der in Deutschland.
Komisch, wie man globale Dinge von konkreten Orten zu dissoziieren vermag.
Es gibt Jobs, die sind immer gefragt. Ärzte, Techniker, Lehrer, Arbeiter fürs Grobe.
So künstlerischer Killefit wie das, was wir gerade lernen, hat keine eigenständige Entsprechung.
Künstler_innen sind allgemein nicht gesucht.
Sie werden konkret angefragt. Als Selbstständige nämlich.

Selbstständigkeit erfordert aber Kohle. Und Kraft. Und Mut. Und Kraft. Und Kohle.

Zwischendurch lehnen wir uns zurück und spüren dem Wasser aus der Flasche im Mund nach.
“Es muss uns ja nicht gefallen. Wir können ja nach dem Jahr mit woofen und rumgucken auch wieder zurück und …”.
Irgendwie tröstet der Gedanke. Und macht auch traurig.
Denn hier würde es doch nicht anders sein.

Was hier anders wäre, wäre Hartz 4 und der Umstand kein Newcomer oder Geflüchtete_r zu sein.
Und der Sumpf aus „Nicht so sicher sein können, wie auf einem anderen Kontinent“.

Hier kommen wir eben auch nicht an Kohle und Mut und Kraft und Mut und Kohle und Kraft.

Einen Moment lang spüre ich seinen Blick auf unser Leben und die Dinge in unserer Wohnung.
Ich merke seine Auffassung von uns als pulsierendes Ding inmitten von toten ersetzbaren Dingen. Sein Gefühl für Bewegungsbereitschaft und Unverbundenheit mit dem, was wir als alltägliche Rätselratereien in unserem Leben haben.

“Ich kann auch einfach gehen.”. Er weiß, dass er das kann und wir wissen, dass er das schon gemacht hat.
Dass wir das schon oft gemacht haben.
Weil wir das konnten und können. Hier in Deutschland, in Europa.
Wo man keinen Pass braucht und weiß, dass man in der größten Not nicht weit von jenen ist, die eine_n kennen.

Wir scrollen uns immer weiter und finden viele Anzeigen für Feldarbeiten.
Gutes Minigehalt, keine Bildungsansprüche, täglich körperlich harte Arbeit.
Ansparen kann man so einem Gehalt sicher nichts. Nebenbei irgendwas erschaffen, das für Nebeneinkünfte sorgt, auch nur eher schwer.
Aber hey – Mushroompicker. Das ist doch ein Job, den wir in dem Kanadajahr mal probieren könnten.

2017 ist das erste Jahr, in dem mir richtig bewusst wird, dass der erste Mai nicht nur unser Lebenstag ist, sondern auch Tag der Arbeit bzw. der Arbeiter_innenkampftag.
Über unser Arbeitsdilemma hüben wie drüben, verschärft sich auch mein Blick für das Dilemma, in dem wir uns vor 15 Jahren befunden haben:
Weder hier noch da, wird es leichter sein. Nur die Sicherheiten verändern sich.

Neulich dachte ich, dass wir vielleicht doch schauen, als sich selbstversorgende Aussteiger_in irgendwo nur zu arbeiten und zu sein, um nichts mehr als unsere Kunst und unsere Hand_Werke zu er_schaffen.
In Deutschland. Irgendwo.
Es ist schwierig für mich, meine – unsere – Fragilität als einzig feste Konstante in unser Leben hineinweben zu müssen.

Ich hätte gern einfach nur einen einzigen Plan, an dem entlang ich mich für alle möglichen Probleme und Optionen vorbereiten und einrichten muss.
Stattdessen habe ich drei Pläne rund um die Berufsausbildung – und sogar ein zwei so bekloppte Planideen, die mit so irrwitzigen Vorhaben wie dem, sich nach der Ausbildung irgendwo auf Stellen zu bewerben oder sich ernsthaft mit einem Studium auseinanderzusetzen, zu tun haben.
Und den Plan für den Fall, dass wir den Appalachain Trail nicht bewandern können, weil die Kohle fehlt.
Und den Plan, falls wir doch zu viel Angst vor einem Jahr allein mit NakNak* in Kanada haben.
Neben all den Plänen, die umfassen, dass die Gewalt an uns doch wieder nach uns greift.

Uns wird oft geraten, immer nur eins nach dem anderen zu verfolgen.
Aber das geht nicht.
Nicht, weil wir viele sind.
Sondern, weil wir fragil sind. Weil wir mit den Dingen, die wir so im Leben und uns selbst haben, entlang vieler Optionen und Probleme planen müssen.
Und ja – so exklusiv das jetzt auch klingt – wir müssen an mehr denken, als das übliche “Es kann alles passieren”.
Wenn uns etwas passiert, dann ist das in vielen Fällen eben doch etwas anderes. Weil 08/15 bei uns oft einfach nicht reicht. Egal, wie sehr wir uns anstrengen oder wollen, dass das so ist.

Wieder spüre ich ihn unter meiner Haut.
“Der Kleine.”, denke ich und merke, dass auch das ein Denken ist, das mir so noch nicht passiert ist in den letzten Jahren.
Inzwischen ist er mir ein Kleiner geworden, dessen Verdienst an uns von uns immer wieder neu gewertschätzt werden muss. Meistens von uns, doch manchmal auch von außen.
Manchmal braucht es das, um das Dilemma, um unsere Zukunftsmöglichkeiten, nicht an seiner Entscheidung, unser damals 15 einhalb jähriges Leben zu retten, aufzuhängen.
Sondern an der Schnittstelle von uns zu den Realitäten, die es gibt und mit denen wir kompatibel sind bzw. zu denen hin wir uns kompatibel entwickeln können oder eine Entwicklung an uns heran wir fordern können.

Am Ende unserer Gedanken liegen wir im Bett und betrachten fasziniert, wie dann doch zusammenhängend dieses Leben in seinem Lauf der Dinge durch Zeit und Raum zu funktionieren scheint.
Nicht Schmetterling – Wirbelsturm –mäßig.

Aber doch Schritt + Schritt = Weg A/Weg B/Weg C + Faktor Lauf der Dinge – mäßig.


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