21072020

„Ey voll behindert Alter“ Die Straßenbahn fährt ab. Ohne die drei jungen Leute mit den Masken unterm Kinn, bunten Turnschuhen an den Füßen und einem Gebaren als gehöre ihnen die gesamte Haltestelle. In meinem Kopf gehe ich hin, halte meinen Schwerbehindertenausweis neben mein Gesicht und sage: „Ich bin voll behindert – dass ihr die Bahn nicht gekriegt habt, ist nur scheiße.“ und dann gehe ich und sie sagen nie wieder „behindert“ statt „kacke“, „scheiße“, „schlecht“, „nervig“, „ärgerlich“.

Tatsächlich tue ich nichts. Schaue weg, mache meine Musik lauter und bleibe in meiner Maske. Meinem Abled-Passing. Der oft als so bezeichneten „Unsichtbarkeit“ m.einer Behinderung. So wie sie sich verhalten, wird eine_r von ihnen mal krass auf die Fresse kriegen, einen Unfall mit einem völlig übertriebenem Auto haben oder so viel zu spät mit einer schweren Krankheit zum_zur Arzt_ Ärztin gehen, sodass das Thema „Behinderung“ irgendwann auch in ihrem Leben eine andere Rolle spielt als heute.

Wir werden alle behindert geboren und sterben behindert. Behindert zu sein, behindert zu werden, das ist Teil jedes Lebens und es hat nur einen Sinn, Unterschiede zu kreieren, indem man aus Leuten, die ihr Leben lang behindert sind und werden, zu einer homogenen Gruppe zusammenfasst. Ausschluss. Abschluss. Grenzen. Die Verstärkung und dadurch so wahrgenommene Bestärkung der Eigenschaften der Gruppierung, als ginge es um unumstößliche Eigenschaften. Feste Zustände. Unveränderlichkeiten.

Behinderung ist kein schlechtes Wort. Es ist ein notwendiges Wort. Jede Person, die ausrückt, wenn es Behinderungen auf der Fahrbahn gibt; jede Person, die damit beschäftigt ist, Lösungen zu entwickeln, wann immer es zu Behinderungen im Betriebsablauf kommt; alle, die auf Assistenzen angewiesen sind und beim Amt Anträge ausfüllen, um die Finanzierung dessen zu ermöglichen … – sie alle wissen, wie wichtig dieses Wort ist. Und was es bedeutet. Dass es nichts weiter beschreibt als einen Umstand. Dass es nichts mit persönlichen Eigenschaften zu tun hat. Alle wissen, dass „Behinderung“ niemals auf etwas deutet, das in einer Person liegt, sondern immer in dem Zusammenspiel mit ihrer direkten und indirekten Umgebung.

Auch, dass das Wort als Beschimpfung oder negative Bewertung verwendet wird, hat etwas mit diesem Zusammenspiel zu tun.
Behinderungen stören. Auf der Autobahn, im Betrieb, im Leben von Menschen.
Und Menschen funktionieren so, dass sie sich störendes, negatives deutlicher einprägen als reibungslos ablaufendes. Die Frage ist, was es für das Miteinander der Menschen bedeutet, wenn Begriffe, die von so hoher Relevanz für viele Menschen sind, für andere als Beleidigung oder Fluch verwendet wird.

Ist es ein Ausdruck von Behinderten – und damit Menschenfeindlichkeit?
Oder Ausdruck von Behinderungsfeindlichkeit und damit etwas logisch nachvollziehbares?

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